Von (aus dem Ruder laufenden?) Staatsschulden, dem BIP als hilfreiche Basis für die Interpretation von Milliarden-Beträgen sowie die Frage: Was ist das mit dieser „Schuldenbremse“? Und am Ende erneut Keynes

Diejenigen Studierenden, die sich an der Übungsveranstaltung beteiligen, werden sich an die Aufgabe mit dieser Abbildung erinnern:

Auf den ersten Blick ist die Botschaft eindeutig: Die Staatsverschuldung – mit kleinen Unterbrechungen – wächst und wächst. Im vergangenen Jahr hat sie die für die allermeisten Menschen sicher unvorstellbare Größenordnung von 2,37 Billionen Euro erreicht. Wo soll das nur enden? Wer soll das jemals zurückzahlen (können)? Das sind Fragen, die vielen durch den Kopf gehen.

Ich hatte für die Übungsveranstaltung folgende Fragestellung zu dieser Abbildung formuliert:

➔  Was muss man bei einer Interpretation der hier dargestellten Zeitreihe der Staatsverschuldung Deutschlands von 1950 bis 2022 aus methodischer Sicht bedenken?

Wir haben dann in der Diskussion neben interessanten Aspekten wie der Frage, wofür denn die Schulden aufgenommen wurden, sehr schnell den hier („aus methodischer Sicht“) besonders relevanten Punkt identifiziert, dass man es mit absoluten Werten zu tun hat (also die Staatsschulden in Milliarden Euro), dass man die aber in Relation setzen sollte. Und da kommt die zentrale Kennzahl der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR), in die wir gerade eingestiegen sind, ins Spiel, also das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Quantifizierung der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung in einem Land. Und wenn man die in der ersten Abbildung ausgewiesenen Staatsschulden in Relation zum jeweiligen (nominalen) BIP der hier dargestellten Jahre setzt, was ich für Sie gemacht habe, dann bekommt man ein solches Bild:

Diese Darstellung relativiert zumindest etwas die Dramatik, die der eine oder andere möglicherweise anhand der ersten Abbildung verspürt haben mag. Selbst in den derzeitig nun wirklich mehr als turbulenten Zeiten liegt die Schuldenquote deutlich unter den schon mal realisierten Spitzenwerten. Was nun keineswegs bedeuten soll und kann, dass also alles in Ordnung und ohne Probleme ist, denn man muss in einem nächsten Schritt der Frage nachgehen, ob eine Schuldenquote von etwas mehr als 60 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung eines Landes „viel“ oder „wenig“ ist.

Einige Anmerkungen zum Thema Staatsverschuldung (nicht nur in Deutschland)

Schauen wir uns zuerst einmal einige allgemeine Erläuterungen an: Als Staatsverschuldung werden die Schulden sämtlicher Haushalte aller Gebietskörperschaften bezeichnet. Diese Verbindlichkeiten in Form von offenen Krediten, Darlehen und Anleihen sind brutto ausgewiesen, sie werden nicht mit dem staatlichen Vermögen verrechnet. Neben den Verbindlichkeiten des Bundes, der Länder und Gemeinden sind auch solche der Sozialversicherungen enthalten.

Wem aber schuldet der Staat das Geld? Als Gläubiger treten vor allem Zentralbanken, Geschäftsbanken, Versicherungen, Fondsgesellschaften sowie private Anleger auf. Diese können sowohl aus dem Inland als auch dem Ausland stammen. Die Finanzagentur des Bundes handelt im Auftrag des Finanzministeriums und versteigert die Wertpapiere (Staatsanleihen) des Staates meistbietend an ausgewählte Banken. Aufgrund der hohen Bonität des Bundes sind die dafür zu zahlenden Zinsen äußerst gering. Bis Anfang des Jahres 2022 wurden sogar negative Zinsen bezahlt, d. h. an jeder neuen Schuldenaufnahme verdiente der Staat Geld. Durch die Erhöhung der Leitzinsen seitens der EZB seit dem Sommer 2022 ist das vorbei. Das verdeutlicht ein Blick auf die Kennzahl „Rendite zehnjähriger Staatsanleihen“, also der jeweilige Zinssatz, den man als Gläubiger bekommt, wenn man eine über 10 Jahre laufende Staatsanleihe eines Landes kauft, dem Staat also Kredit gewährt. Hier mal eine Darstellung der entsprechenden Renditen für deutsche Staatsanleihen mit einer Laufzeit von 10 Jahren für den Zeitraum von Mai 2011 bis Anfang des Jahres 2023 (Monatswerte):

Im Januar des Jahres 2023 lag die Rendite deutscher Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit bei durchschnittlich etwa 2,22 Prozent. Das ist ein enormer Anstieg gegenüber der Situation vor einem Jahr: Im Januar 2022 wurden zehnjährige Bundesanleihen noch mit etwa -0,06 Prozent verzinst.

Dabei ist Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern noch gut aufgestellt:

Gemessen wird die Höhe der Staatsverschuldung mit der Schuldenquote, dem Verhältnis der Schulden zu der jährlichen wirtschaftlichen Leistung eines Landes, dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Juni 2022 lag Deutschlands Schuldenquote bei 71,2 Prozent. Zum Vergleich: In Frankreich lag sie zum gleichen Zeitpunkt bei 96 Prozent, in den USA bei 125,57 Prozent und in Japan sogar bei 257 Prozent.

In Deutschland wird die mögliche Höhe der Neuverschuldung seit 2011 durch die sogenannte „Schuldenbremse“ geregelt, die sogar im Grundgesetz verankert ist.

Schuldenbremse: Die Schuldenbremse sieht vor, dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Diese Regelung ist in Artikel 109 Grundgesetz verankert. Es handelt sich um eine Regelung, die die Nettoneuverschuldung von Bund und Ländern (formal gilt sie nicht für die Kommunen) begrenzen soll. Da die Schuldenbremse Eingang in das Grundgesetz gefunden hat, ist sie nur noch mit 2/3-Mehrheit von Bundestag und Bundesrat änderbar. Die Schuldenbremse muss vom Bund seit 2016 und von den Ländern ab 2020 eingehalten werden. Es existieren aber eine Reihe von Ausnahmen von dieser Regel zum Haushaltsausgleich ohne Nettokreditaufnahme. Eine Ausnahme von obigem Grundsatz tritt ein, wenn eine besondere Situation, wie z.B. eine Naturkatastrophe oder eine starke Rezession, vorliegt. Hierbei gilt jedoch grundsätzlich, dass mit der Aufnahme von Krediten ein Tilgungsplan festgelegt werden muss, der die Rückführung der Schulden fixiert. Eine weitere Ausnahme stellt die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse dar. Diese besagt, dass in konjunkturell schlechten Zeiten zwar grundsätzlich die Aufnahme von neuen Krediten (im Sinne einer Nettokreditaufnahme) gestattet ist, diese aber in Zeiten des konjunkturellen Aufschwungs wieder zurückzuführen sind. Eine dritte Ausnahme stellt die Strukturkomponente der Schuldenbremse dar, die jedoch nur dem Bund und nicht den Ländern zusteht. Die Strukturkomponente besagt, dass dem Bund pro Jahr eine strukturelle Nettokreditaufnahme von 0,35 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts gestattet ist, ohne dass diese zwingend wieder zurückzuführen ist. Bestehende Schulden können von Bund und Ländern weiterhin umgeschuldet werden, d.h. für die Tilgung alter Schulden können neue Schulden aufgenommen werden. Die Staatsschuldenbremse zielt in ihrer Wirkungsweise auf die Nettokreditaufnahme ab, d.h. es soll das (strukturelle) Wachstum des Schuldenbestandes verhindert oder zumindest gebremst werden. Mithin sollen maximal so viele neue Schulden aufgenommen werden, wie zur Tilgung der alten Schulden notwendig sind – von einzelnen Ausnahmen (wie der Konjunktur- oder Strukturkomponente) abgesehen.

Nun wird sich der eine oder andere mit Blick auf die erste Abbildung fragen, warum aber wachsen dann die Staatsschulden? Dazu aus einem Handelsblatt-Artikel von Nils Buske: »Zuerst waren es die Maßnahmen zur Bewältigung der Coronpandemie, die die Verschuldung des deutschen Staates im ersten Halbjahr 2021 auf Rekordhöhe getrieben hatten. Mittlerweile beschütten die Folgen des Ukraine-Kriegs, allen voran die Energiekrise und die anhaltend hohe Inflation, den Schuldenberg des Landes.« Geht es nach Bundesfinanzminister Christian Linder (FDP), soll sich Deutschland 2023 wieder an enge Vorgaben zur Neuverschuldung halten.

Zum Jahresende 2022 belief sich die Gesamtverschuldung des öffentlichen Sektors (Bund, Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände sowie Sozialversicherungen einschließlich aller Extrahaushalte) auf 2,37 Milliarden Euro. Damit ist die öffentliche Verschuldung im Vergleich zum Jahresende 2021 um zwei Prozent bzw. 46,1 Milliarden Euro angestiegen.

Die Schulden teilen sich dabei wie folgt auf:
➞ 1,62 Billionen Euro Schulden entfallen auf den Bund.
➞ 606,8 Milliarden Euro Schulden haben die Länder.
➞ 140,1 Milliarden Euro verteilen sich auf die Gemeinden und Gemeindeverbände.
➞ Der geringste Schuldenanteil in Höhe von lediglich 36 Millionen Euro ist auf die Sozialversicherung zurückzuführen.

In den vergangenen zwei Jahren mussten aufgrund der Coronapandemie hohe Summen für Wirtschaftshilfen, Gesundheits- und Sozialschutz aufgewandt werden. Auch die Bewältigung der globalen Finanzkrise ab 2008 und die einhergehende Bankenrettung 2010 verlangten enorme Ausgaben. Zuletzt hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zu den hohen Energie- und Rohstoffpreisen geführt, die nach einer sozialen Abfederung verlangen.

All dies sind Ausnahmesituationen, die natürlich eine weit höhere Nettokreditaufnahme erforderten, als ursprünglich vorgesehen. Die Ursachen für die sprunghaften Anstiege der deutschen Staatsschulden in den Jahren 2010, 2020 und 2022 sind offenkundig, doch auch abseits solcher Sonderfälle gibt es für den Staat gute Gründe, Schulden aufzunehmen.

Und hier stoßen Sie dann wieder auf den berühmten Ökonomen John Maynard Keynes, den ich bereits in der VWL-Vorlesung angesprochen haben, als ich Ihnen die Grundzüge einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik skizziert habe: In konjunkturell schwachen Zeiten kann die öffentliche Hand mithilfe neuer Ausgaben den Rückgang der privaten Nachfrage kompensieren. Hält der rezessionsbedingte Pessimismus Industrie und Privathaushalte von Investitionen ab, kann der Staat also mit neuen Investitionen für weitere Entwicklung sorgen und damit „die Wirtschaft nachhaltig ankurbeln“. Um die Lücke der konjunkturbedingten Steuerausfälle zu schließen und weiterhin Staatsausgaben zu tätigen, muss der Staat zusätzliche Kredite aufnehmen. Dieses antizyklische, keynesianische „deficit spending“ ist notwendig, um der Rezession entgegenzuwirken und die Wirtschaft wieder in Richtung Aufschwung und Hochkonjunktur zu leiten. Wenn es denn wirklich eine antizyklische Ausgestaltung des „deficit spending“ gibt.

Und hier zum Thema John Maynard Keynes und der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik was für die Ohren – zwei Podcasts, die Ihnen diesen wichtigen Ökonomen und seine Vorstellungen von Wirtschaftspolitik näher bringen können:

➔ BR: John Maynard Keynes – Ökonom der Krise (24.10.2019): »Kaum ein Ökonom hat die Wirtschaftspolitik so stark beeinflusst wie John Maynard Keynes. Seine Theorie der Volkswirtschaft hat der englische Ökonom aus der Erfahrung mit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er entwickelt. (Produktion: BR 2009).«

➔ BR: RAUS AUS DER KRISE! Keynes‘ folgenreicher Plan für die Wirtschaft (14.04.2022): »Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre hat John Maynard Keynes auf die Idee gebracht: In Krisen soll der Staat gezielt in die Wirtschaft eingreifen, um ihr wieder auf die Beine zu helfen. Damit vertrat er genau das Gegenteil von der Idee einer Wirtschaft, die sich am besten selbst helfen könne. Bis heute scheiden sich am Keynesianismus die ökonomischen Geister. (Produktion: BR 2010).«