Nichts ist vollkommen, vor allem nicht die Märkte. Und wenn es mal eine Annäherung an die Modellwelt gibt, wird sie zerstört durch Marktmanipulationen

Es ist schon ein Kreuz mit den Ökonomen – da schlägt man eines der vielen Lehrbücher zur Volkswirtschaftslehre auf und mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 90 Prozent wird einem beim Thema Märkte die schöne Welt der vollkommenen Märkte als Bezugsmodell für viele weiterführende Ableitungen präsentiert. Natürlich findet man in jedem halbwegs anständigen Lehrbuch dann auch den Hinweis, dass es in der wirklichen Wirklichkeit mit der Vollkommenheit der Märkte nicht so weit her ist, aber für die Modellbildung ist so ein vollkommener Markt eine feine Sache.

Ich habe Ihnen die Anforderungen skizziert, die erfüllt sein müssen, damit man von einem „vollkommenen Markt“ sprechen kann und darf. Es ist mehr als offensichtlich geworden, dass die nun wirklich nicht erfüllbar sind und selbst eine Annäherung an diese Voraussetzungen findet man in der Realität wenn, dann in einer molekularen Größenordnung. Es wurde darauf hingewiesen, dass – wenn überhaupt – die Börse eine gewisse Annäherung an die Anforderungen liefern kann. Das Argument taucht auch an anderen Orten immer wieder als Beispiel für das Ideal eines vollkommenen Marktes auf, beispielsweise in so einer Form: »Als Beispiel für einen annähernd vollkommener Markt kann die Wertpapierbörse angeführt werden. Der einzelne Händler hat keinen Einfluss auf die Börsenkurse. Er kann nur entscheiden, ob er bei einem bestimmten Kurs Wertpapiere kaufen oder verkaufen will. Er ist ein Mengenanpasser. Es ist ihm auch egal, von wem er kauft, bzw. an wen er verkauft. Er hat keine ausserökonomischen Präferenzen. Wertpapiere werden nur der Gattung nach bestimmt. Es ist dem Händler egal, welche Stücke er hergeben muss, bzw. welche Stücke er bekommt. Alle Wertschriften einer bestimmten Gattung sind homogen. Es gibt für den Händler keine Exemplare, die besser oder schlechter wären.«

Oder in diesem Beitrag von Max Fassbender: Vollkommener Markt: Diese Bedingungen müssen erfüllt werden: »Es gibt keine echten Beispiele, in denen alle genannten Bedingungen erfüllt werden. Letztlich bleibt der vollkommene Markt ein in der Theorie zwar wünschenswertes, aber dennoch fiktives Gebilde. In der Realität gibt es lediglich unvollkommene Märkte, die sich diesem Idealbild jedoch möglichst annähern. Hierbei kommt vor allem der Handel an Börsen oder Devisenmärkten den Vorstellungen am nächsten. Dass der Börsenhandel einem vollkommenen Markt zumindest sehr nahe kommt, liegt dabei zum Beispiel an der Transparenz des Marktes und daran, dass sich das Handelsgeschehen zeitlich und räumlich an einem Punkt vollzieht.« Und unter der fragenden Überschrift „Ist die Börse ein vollkommener Markt?“ führt er dann weiter aus:

»Zwar werden nicht alle Bedingungen für einen vollkommenen Markt im Börsenhandel erfüllt, immerhin jedoch ein paar davon. Die Börsen können daher zumindest als eine Annäherung an die Utopie des idealen Marktes erachtet werden. Gerade die Punkte Markttransparenz, (unendlich) schnelle Reaktion der Marktteilnehmer und freier Marktzutritt werden hierbei in weiten Zügen verwirklicht. Börsen bilden einen Punktmarkt. Das heißt, dass sämtliche Marktinformationen ohne räumliche oder zeitliche Kluft verfügbar sind. Somit wird eine hohe Markttransparenz gewährleistet. Da (im besten Fall) sämtliche Angebote und deren Preise an einem Punkt zusammenlaufen, können sich die Marktteilnehmer einen umfassenden Überblick über Nachfrage beziehungsweise Angebot verschaffen. Dies ermöglicht eine sehr schnelle Reaktionszeit auf Markttrends. Diese ist zwar nicht „unendlich schnell“, durch automatisierten, elektronischen Handel wird sich dieser Bedingung aber zumindest angenähert. An den meisten Börsen hat jeder freien Zutritt, wenn nicht persönlich, dann über einen Broker, der die Interessen des jeweiligen Marktteilnehmers vertritt – heutzutage oftmals bequem von zuhause über einen Online-Broker. Die Börse verwirklicht also zumindest im Ansatz einen vollkommenen Markt.« Allerdings merkt der Autor am Ende seiner Ausführungen an, dass man das nur als eine Annäherung an das Modell des „vollkommenen Marktes“ verstehen darf, denn auch an den Börsen gibt es zahlreiche „Verunreinigungen“, die dann wieder unvollkommene Marktsituationen herstellen.

An der Börse sind tatsächlich einige Merkmale eines vollkommenen Marktes im Prinzip erfüllt. Gerade deshalb ist es an den Börsen so wichtig, dass Verletzungen der Anforderungen unterbleiben oder aber Versuche, sich einen Vorteil zu verschaffen, der gegen die notwendige Markttransparenz verstößt, konsequent verfolgt und sanktioniert werden.

➔ Zu einer solchen Manipulation gehört auch der (verbotene) Insiderhandel. Also jemand, der weiß, das beispielsweise morgen eine negative Nachricht veröffentlichen muss, die dazu führen wird, dass der Börsenkurs abstürzen wird, könnte sich durch den Verkauf seiner Aktien heute einen enormen Vorteil verschaffen. Vgl. dazu auch die Erläuterungen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) zu den Themen Marktmanipulation und Insiderhandel. Wer wissen will, wie oft das verfolgt und ggfs. zu einer Verurteilung geführt hat, der kann sich über die Zahlen aus dem Jahr 2017 informieren. Zu diesem Themenfeld auch dieser Artikel, der bereits 2008 veröffentlicht wurde, aber das Grundproblem gut beschreiben kann: Nutzen, was noch niemand weiß. Darin wird darauf hingewiesen, dass es den Insiderhandel immer schon gegeben hat und das natürlich die Anreize sehr groß sind, angesichts der enormen Gewinnmöglichkeiten hier trotz Strafandrohung tätig zu werden. Denn die Aufdeckung und Verfolgung von Insiderhandel ist kein einfaches Unterfangen. Zu dieser Problematik der Artikel Beim Insiderhandel sind die Ermittler oft hilflos von Jan Willmroth.

➔ Aber es gibt noch ein weiteres und weitaus bedeutsameres Einfallstor, über das man die schöne Architektur des vollkommenen Marktes Börse zerlegen kann: der Hochfrequenzhandel (HFT) an der Börse. Das nun ist eine wirklich spannende Angelegenheit. Um das besser zu verstehen, habe ich Ihnen ein Video zum Hochfrequenzhandel zur Verfügung gestellt. Man kann darüber sehr gut nachvollziehen, wie hier die Voraussetzungen eines vollkommenen Marktes massiv gestört werden und wie das funktioniert, also über welche Mechanismen. Das wurde in dem kurzen Erklärvideo sehr schön herausgearbeitet. Zugleich kann man hier auch lernen, wie man mit Regulierung versucht, den Entwicklungen an der Börse hinterherzulaufen – und die Regulierung bleibt dann auch wie so oft nur halbherzig und kann damit nicht wirklich an die Wurzel heran.

➔ Bitte erinnern Sie sich an die Ausführungen in dem Erklärvideo zum Hochfrequenzhandel. Dort tauchen zwei Begriffe aus, mit denen beschrieben wird, wie Hochfrequenzhändler Marktmanipulationen vornehmen (was nicht gleichzusetzen ist mit illegalem Verhalten), um über Masse + Geschwindigkeit Vorteile gegenüber den anderen Marktteilnehmern zu bekommen:

➞  Quote Stuffing: „Angebotsflutung“. Eine Form der Marktmanipulation, die von Hochfrequenzhändlern angewendet wird und bei der eine große Anzahl von Aufträgen schnell eingegeben und zurückgenommen werden muss, um den Markt zu überfluten.

➞  Spoofing: „Vortäuschung“. Es handelt sich um eine gezielte Irreführung, wenn etwa durch massenhafte Scheinaufträge eine nicht vorhandene Liquidität vorgetäuscht werden soll. Ergänzung: Werden diese kurz hintereinander mit auf- oder absteigenden Limits gestaffelt, um den Kurs in eine bestimmte Richtung zu bewegen, heißt die Methode „Layering“.

Der Hochfrequenzhandel lebt von Sekundenbruchteilen. Durch die kontinuierliche Veränderung von An- und Verkaufskursen lassen sich mithilfe von modernsten Computern bereits bei kleinen Kursbewegungen Gewinne erzielen. Um hierbei zeitliche Vorteile zu erzielen, sind viele dieser Computer direkt an der Börse oder dem Handelsplatz angesiedelt. Entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg können aufgrund der relevanten Mikrosekunden bereits wenige hundert Meter Entfernung zwischen den Rechenzentren sein. Trotz modernster Technologie entscheidet also noch immer der kürzeste Weg zur Börse. Damit sind Hochfrequenzhändler quasi die moderne Form der früheren menschlichen Börsenmakler, die ebenfalls aus Geschwindigkeitsgründen direkt um das Börsenparkett angesiedelt waren. Mitentscheidend für den Erfolg beim Hochfrequenzhandel ist die Höhe der Spreads – also der Differenz von An- und Verkaufskursen. Je höher dieser ist, umso wahrscheinlicher lassen sich bereits bei kleinen Kursbewegungen Gewinne erzielen. Allerdings sorgt der Hochfrequenzhandel auch stets dafür, dass die Spreads gering gehalten werden.

Und bei der Deutschen Börse, die den Wertpapierhandel abwickelt, findet man unter dem Stichwort „Hochfrequenzhandel“ die folgenden Ausführungen: »Der Hochfrequenzhandel (High-Frequency Trading, HFT) ist eine neue, viel diskutierte Handelstechnik, bei der Wertpapiertransaktionen zunehmend von eigenständig handelnden, extrem schnellen Hochleistungscomputern ausgeführt werden. Diese Handelstechnik hat sich im Zuge der fortschreitenden technischen Evolution der Finanzmärkte entwickelt. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Erhöhung der Liquidität im Handel mit Wertpapieren und trägt gravierend zur Reduzierung von Spreads bei. Von der Verbesserung der Preisqualität an den Märkten profitieren auch die Unternehmen durch niedrigere Finanzierungskosten. Insofern spielt der Hochfrequenzhandel eine wichtige Rolle für effiziente und funktionsfähige Kapitalmärkte und ist in seiner Wirkung von volkswirtschaftlichem Nutzen. Wie bei anderen technologischen Entwicklungen können jedoch auch im Zusammenhang mit dem Hochfrequenzhandel gewisse Risiken, wie verstärkte Volatilität, Marktmanipulationen oder technische Fehler, nicht ausgeschlossen werden. Durch umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen wie Plausibilitätskontrollen und Volatilitätsunterbrechungen („Circuit Breakers“) wirkt die Gruppe Deutsche Börse den vom Hochfrequenzhandel ausgehenden Risiken effektiv entgegen und stellt einen ordnungsgemäßen Börsenhandel sicher.«

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass die ordentlich herumeiern zwischen einer positiven Darstellung des HFT und zugleich dem Hinweis, man würde schon längst was machen gegen mögliche Probleme. Dass das möglicherweise nicht genug sein könnte, macht dann auch sie eine selbstimmunisierende Aussage deutlich: »Ergänzende Regulierungsmaßnahmen, die dazu beitragen, diese Risiken weiter zu minimieren, sind darüber hinaus ausdrücklich zu unterstützen.« Man muss hier zur Einordnung dieser Positionierung auch die Tatsache berücksichtigen, dass die sehr kleine Gruppe der High Frequency Trader einen großen Teil der Umsätze generiert – und damit der Einnahmen der Deutschen Börse, die sich daraus speisen.

Das Thema Hochfrequenzhandel an den Börsen wird schon seit Jahren diskutiert. Hier noch ein paar Hinweise zur Vertiefung des Themas für die Interessierten: Die Macht der Algorithmen, so ist eine Hintergrundsendung des Deutschlandfunks bereits aus dem Jahr 2014 überschrieben: »Ist von der Börse die Rede, kommt vielen noch das geschäftige Treiben telefonierender und rufender Händler in den Sinn. Doch das ist Geschichte. Heute bestimmt der Computerhandel das Bild. Transaktionen werden weltweit in Bruchteilen von Sekunden vorgenommen. Das birgt viele Risiken.« Lesen Sie den Beitrag vor dem Hintergrund der dort dargestellten Risiken, aber auch Chancen. Und 2015 konnte man dann das hier lesen: »Wieder haben Hochfrequenzhändler beim jüngsten Börsencrash kräftig mitverdient. Welchen Schaden richtet der automatisierte Computerhandel tatsächlich an?«, so die Fragestellung von Nadine Oberhuber in ihrem Artikel Wenn Maschinen zocken. Hier taucht auch von dem amerikanischen Autor Michael Lewis geprägte Begriff der „Flash Boys“ auf (vgl. dazu auch den Artikel Die geheime Welt der High-Speed-Händler). Und 2016 berichtet Christian Siedenbiedel in seinem Artikel Hochfrequenzhändler können Börsenkrisen verstärken: »Die Bundesbank hat den Hochfrequenzhandel an der Börse untersucht. Ihr Ergebnis: In ruhigen Zeiten wirkt er positiv. Aber wehe, es zieht Sturm auf.« Er bezieht sich dabei auf eine umfangreiche Untersuchung der Deutschen Bundesbank. Die Studie Bedeutung und Wirkung des Hochfrequenzhandels am deutschen Kapitalmarkt wurde 2016 in den Monatsberichten der Bundesbank veröffentlicht.

Die Regulierung des Hochfrequenzhandels an den Börsen und weit darüber hinaus: Die Finanztransaktionssteuer als Hoffnungsträger. Oder doch nur ein Rohrkrepierer?

Das Erklärvideo zum Hochfrequenzhandel enthält neben der Darstellung dessen, was man bereits regulatorisch auf den Weg gebracht hat, auch Vorschläge, die zwar diskutiert und gefordert, aber bislang noch nicht umgesetzt worden sind. Darunter auch die seit Jahren diskutierte und geforderte Finanztransaktionssteuer. 

In dem Video wurde behauptet, dass eine Finanztransaktionssteuer den Hochfrequenzhandel weniger lukrativ machen (und ausbremsen) würde. Und dass man zugleich erhebliche Steuereinnahmen generieren könnte, mit denen sich dann andere gesellschaftlich relevante Aufgaben finanzieren ließen. Hört sich erst einmal so gut und überzeugend an, dass man sich fragt, warum das immer noch nicht Wirklichkeit geworden ist. 

Um was genau geht es hier? Die Finanztransaktionssteuer ist eine geringe Abgabe auf Handelsprozesse an Börsen mit dem Ziel, potenziell gefährliche Spekulation unrentabel zu machen. Besonders gegen den sogenannten Hochfrequenzhandel richtet sich die Steuer. Das grundsätzliche Konzept einer häufig nach dem US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers James Tobin benannten Transaktionssteuer existiert bereits seit 47 Jahren. Organisationen wie das globalisierungskritische Netzwerk Attac machten sich die Einführung so einer Abgabe zur zentralen Aufgabe. Im Zuge der globalen Finanzkrise 2008 wurden die Forderungen nach einer Besteuerung lauter – auch in Deutschland.

➔ Eine der ersten Überlegungen zu einer Finanztransaktionssteuer in Bezug auf den Aktienmarkt geht auf John Maynard Keynes nach der Great Depression aus dem Jahre 1936 zurück. Keynes argumentierte, dass durch die Verminderung der kurzfristigen Spekulation durch die Finanztransaktionssteuer sich Unternehmen mehr auf langfristige nachhaltige Gewinnmaximierung fokussieren könnten. Keynes sah aber auch gleichzeitig die bis heute anhaltende Diskussion und das von Gegnern der Finanztransaktionssteuer immer wieder angeführte Problem, dass eine Finanztransaktionssteuer zu geringerem Handelsvolumen und geringerer Liquidität führen könne.

»Seit Monaten streiten die EU-Länder um eine europäische Finanztransaktionssteuer. Eigentlich sollte diese den Hochfrequenzhandel eindämmen. Danach sieht es zurzeit nicht aus«, so beginnt der Artikel Wem nützt die Finanztransaktionssteuer?, der im Mai dieses Jahres veröffentlicht wurde. Auch hier treffen wir auf Argumente, die Ihnen schon genannt sind: 

»Tatsächlich häufen sich inzwischen blitzartige Kurseinbrüche, die teils ohne Grund stattfinden. Besonders spektakulär war der „Flash Crash“ am 6. Mai 2010, den computergesteuerte Handelsprogramme auslösten. Binnen weniger Minuten stürzte der Dow um rund 1.000 Punkte ab. Auch beim Corona-Crash im März könnten die Hochfrequenzhändler die Hände mit im Spiel gehabt haben. Sie sollen den Herdentrieb verstärkt haben. „Die Ursachen der extremen Marktbewegungen liegen nicht allein in der abrupten Vollbremsung der Wirtschaft durch die Quarantäne-Maßnahmen“, meint Bernd Meyer, Chefanlagestratege der Berenberg Bank. Mit verantwortlich seien auch die Robo-Advisors mit ihren regelbasierten Anlagestrategien. Spätestens seit dem „Flash Crash“ vor zehn Jahren stehen die Turbo-Trader in der Kritik. Die Rufe nach einer Beschränkung oder gar einem Verbot der Hochfrequenzhändler werden lauter. 2013 beschloss die Bundesregierung ein Tempolimit. Das Hochfrequenzhandelsgesetz sollte sicherstellen, dass die Händler registriert werden und Missbrauch bestraft wird. Geholfen hat es wenig. Die High-Speed-Trader dominieren weiter das Geschehen an den Märkten. Ihr Anteil am Handelsvolumen macht nach Angaben der Deutschen Börse gut 25 Prozent aus.«

»Auch die EU will den ultraschnellen Händlern seit langem das Handwerk legen. Seit 2011 ringen die EU-Länder um eine europaweite Finanztransaktionssteuer, die auch die Spekulanten belasten sollte. Nun treibt Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) das Projekt voran. Er will im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft ab 1. Juli endlich eine Einigung zur EU-Steuer herbeiführen. Im Dezember einigte sich Scholz mit seinem französischen Amtskollegen auf einen Richtlinientext und schickte den Vorschlag an die beteiligten EU-Mitgliedsstaaten. So sollte eine Abgabe von 0,2 Prozent auf Aktien von Unternehmen verhängt werden, die ihren Hauptsitz im Inland haben und wenigstens eine Milliarde Euro wert sind. Betroffen wären davon in Deutschland fast 150 Firmen.«

Der Vorschlag von Scholz stieß jedoch rasch auf Widerstand. Vor allem Österreich stemmte sich gegen das deutsch-französische Konzept der Transaktionssteuer. Warum das?

Man kann es kaum glauben: »… ausgerechnet eine Gruppe planten Deutschland und Frankreich von der Steuer zu verschonen: die Hochfrequenzhändler. „Wir wollen die Spekulanten besteuern, nicht die Sparer, die in Zeiten der Niedrigzinspolitik in Aktien investieren“, moniert Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz. Bei dem vorgeschlagenen deutsch-französischen Modell, würden 99 Prozent aller Finanztransaktionen von der Steuer ausgenommen.«

„Wir sollten bei der EU-Finanztransaktionssteuer zum Ursprungsvorschlag zurückkehren und den Hochfrequenzhandel und Derivategeschäfte erfassen“, verlangt selbst der ehemalige Bundesentwicklungsminister Müller (CSU). 

Man sieht – da ist noch eine Menge unklar. Das Bundesfinanzministerium hat eine eigene Website zu dem Thema eingerichtet, die Sie hier aufrufen können: www.finanztransaktionssteuer.de.

Letztendlich stehen wir, neben der Frage von möglichen negativen „Kollateralschaden“ für kleine Anleger, vor der immer wieder relevanten Problematik, dass manche Regulierungen nur dann wirklich Sinn machen, wenn es nicht (zu viele) Möglichkeiten gibt, durch Umgehungsstrategien1 einer Besteuerung, so gut sie auch gemeint sein mag, zu entgehen, indem man beispielsweise seine Aktivitäten an Börsen verlagert, an denen keine Finanztransaktionssteuer erhoben wird, um beim konkreten Thema zu bleiben.

1 Zum Thema Umgehungsstrategien: In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur taucht hierzu immer wieder der Begriff des „Kobra-Effekts“ auf: Der „Kobra-Effekt“ verweist auf eine „Verschlimmbesserung“: Das Ergebnis von gut gemeint führt manchmal in eine regelrechte Katastrophe. In der Wissenschaft ist das Phänomen auch bekannt als Kobra-Effekt. Kurz gesagt, beschreibt dieser Effekt das Verschlimmern einer Ausgangssituation durch den Versuch, es eigentlich besser zu machen. Klingt kryptisch, kommt aber im Alltag häufiger vor als man vielleicht denkt. Es das Phänomen, dass Maßnahmen, die getroffen werden, um ein bestimmtes Problem zu lösen, dieses auch verschärfen können. Der Begriff taucht auf in einem Buch des Volkswirts Horst Siebert*, in dem die Folgen falscher Anreize für die Wirtschaft dargestellt wurden:

Die Bezeichnung „Kobra-Effekt“ geht auf ein angebliches historisches Ereignis im britisch besetzten Indien der Kolonialzeit zurück: Ein britischer Gouverneur wollte einer Kobraplage Einhalt gebieten, indem er ein Kopfgeld auf jedes erlegte Exemplar aussetzte. Scheinbar funktionierte das Konzept zunächst gut: Immer mehr tote Schlangen wurden abgeliefert. Jedoch wurde deren Anzahl nicht gemindert, da die Bevölkerung dazu überging, Kobras zu züchten und zu töten, um weiterhin von der Prämie zu profitieren. Als das Kopfgeld nach einem gewissen Zeitraum wieder aufgehoben wurde, ließen die Züchter die Tiere frei, da sie keine Verwendung mehr für sie hatten – dadurch hatte sich dank (indirekter) staatlicher Förderung die Zahl der Kobras vervielfacht. Der Kobra-Effekt ist ein Beispiel für eine unbeabsichtigte Fehlsteuerung aufgrund von Ausweichverhalten oder Umgehungsstrategien der Beteiligten.

* Horst Siebert (2001): Der Kobra-Effekt. Wie man Irrwege der Wirtschaftspolitik vermeidet, Stuttgart 2001