„Alle Menschen müssen sterben“, meinte einst Nicolas Boileau, Dichter am Hofe Ludwigs XIV. Als der Sonnenkönig ihn darauf scharf ansah, korrigierte sich Boileau sofort: „Fast alle Menschen, Sire, fast alle!“
„Lohnt es sich, Menschen zu heilen?“ Diese Frage würden die allermeisten von uns sicher mit einem klaren Ja beantworten. Aber nicht die Investmentbank Goldman Sachs. Die hatte im Jahr 2018 den Bericht „Die Genom-Revolution“ veröffentlicht, in dem aktuelle Empfehlungen der Investmentbank für ausgewählte Kunden aus der Biotechnologiebranche enthalten waren. In dieser Studie schreibt die Goldman Sachs Analystin Salveen Richter: „Das Potential, Behandlungen zu entwickeln, die schon nach einer Anwendung die Heilung vollbringen, ist der attraktivste Aspekt der Gentechnik. Allerdings sind solche Behandlungen ganz anders zu betrachten, wenn es darum geht, ein bleibendes Einkommen zu erzielen“, kann man diesem Artikel entnehmen: Goldman Sachs: Heilung ist schlecht fürs Geschäft. Und weiter heißt es darin: »Für Goldman Sachs schmälern Behandlungen, die zu einer kausalen Heilung führen, den langfristigen Geldfluss (Cash-Flow). Als Beispiel zitierte Richter ein Hepatitis C-Arzneimittel von Gilead Sciences, das Heilungsraten von 90 Prozent bewerkstelligt. Nach anfänglichem Umsatzhoch sanken die Einnahmen für das Biotech-Unternehmen, meinte die Finanzexpertin. „Bei Infektionskrankheiten wie beispielsweise Hepatitis C verringert die Heilung die Zahl der verfügbaren Patienten sowie der Virusüberträger“, erläuterte Richter.«
Der Medizin Bernd Hontschik hat 2018 in seiner Kommentierung unter der Überschrift Die Genom-Revolution das Problem so auf den Punkt gebracht: »Mit den Hepatitis-C-Medikamenten konnte 2015 ein weltweiter Umsatz von 12,5 Milliarden Dollar erzielt werden, aber schon 2018 werden es nur noch weniger als vier Milliarden sein. Denn das Medikament gegen Hepatitis C hat Heilungsraten von etwa 90 Prozent, wodurch der Pool von zu behandelnden Patienten immer kleiner wird, was wiederum die Neuinfektionen immer weiter reduziert, also sinkt der Umsatz und somit auch der Gewinn.«
Da müssen bei dem Betriebswirt in der Pharmabranche natürlich alle Warnlampen angehen. Ein Medikament, dass einem die Kunden wie Butter in der Sonne schmelzen lässt? Nicht gut, also betriebswirtschaftlich gesehen. »Das ist zwar ein großartiger Erfolg für Patienten und ein enormer Wert für die Gesellschaft, gleichzeitig aber „eine große Herausforderung für die Entwickler der Gentechnik in der Medizin, die nach einem nachhaltigen Cash Flow streben“, sagt Goldman Sachs. In anderen Worten: ein schlechtes Geschäftsmodell. Von der Entwicklung solcher Medikamente sollte man Abstand nehmen, sagt Goldman Sachs. Stattdessen sollten sich die Auftraggeber lieber auf Medikamente konzentrieren, für die die Patientenzahl stabil, vielleicht sogar ansteigend sei, also beispielsweise auf Krebsmedikamente. Dann würde das Geschäft auch weiterhin gewinnbringend bleiben.«
Die Heilung von Menschen, dann auch noch möglicherweise mit nur einer höchst passgenauen Behandlung, mag als Segen für uns und auch volkswirtschaftlich daherkommen, betriebswirtschaftlich ist das aber ein „schlechtes Geschäft“. Und dass es hier ein unauflösbar daherkommendes Dilemma gibt, das kann man auch diesem Bericht entnehmen: Kindgerechte Herzschrittmacher retten Leben. Doch die Hersteller stellen die Produktion ein. Der Markt ist nicht attraktiv genug, so dieser Artikel: ebenfalls aus dem Jahr 2018: Keine Herzschrittmacher für Kinder mehr. Auch hier geht es um ein Angebots-Nachfrage-Problem, um in der Terminologie der Ökonomen zu bleiben: »Die Patienten, die es brauchen können, sind nicht nur selber winzig, sie bilden auch eine ausgesprochen kleine Gruppe. Zwar kommt jedes hundertste Baby mit einem kleineren oder größeren Herzfehler zur Welt … (Aber) nur eine verschwindend kleine Minderheit von ihnen braucht so früh einen Schrittmacher.« Im Jahr Jahr 2016 wurden in Deutschland weniger als 100 Eingriffe verzeichnet – und darunter sind auch Folge-OPs bei Kindern, die bereits einen Schrittmacher haben. Für die Hersteller solcher Geräte ist das nun wirklich keine relevante Größe – vor allem, wenn man bedenkt: Ein Gerät kostete bislang etwa 800 Euro – wenig im Vergleich zur OP selbst, die mit etwa 20.000 Euro zu Buche schlägt.
Dass die Hersteller bei den Absatzzahlen keine Jubelorgien veranstalten wollen und können, liegt durchaus nahe. Hinzu kommt: »Insgesamt … sei es für Hersteller aufgrund immer strengerer Anforderungen an Studien und Sicherheit genau bei solchen nur selten eingesetzten Geräten „fast unmöglich, hier die geforderten Nachweise zu bringen.“ Zudem müssten Geräte regelmäßig erneut zertifiziert werden, und auch hier seien die Anforderungen inzwischen sehr hoch.«
Ein Leben lang die Menschen bis zum Tod an den Tropf der Pharmaindustrie hängen
Wo der Rubel wirklich rollt? Na da, wo diese beiden Beobachtungen gemacht werden: Zum einen Medikamente, die ganz viele Menschen brauchen. Zum anderen als Königsklasse wären Medikamente, die man bis zum Tod regelmäßig schlucken muss und die man auch nicht absetzen kann, weil es nicht um Heilung geht, sondern um eine Vorbeugung gegen eine mögliche Erkrankung. Krebsmedikamente gehören zum ersten Punkt und Cholesterin-Senker zum zweiten.
Und noch eine überaus lukrative dritte Variante:
Das „Disease Mongering“
Das ist sozusagen ganz großes Theater. Es geht um das„Disease Mongering“. Was das ist? Natürliche Wechselfälle des Lebens, geringfügig vom Normalen abweichende Eigenschaften oder Verhaltensweisen werden systematisch als krankhaft umgedeutet.Der Begriff Disease Mongering wurde von der Journalistin Lynn Payer 1992 als Titel für ein Buch verwendet, dessen Untertitel lautet „Wie Ärzte, pharmazeutische Unternehmen und Versicherungen Dich krank machen“.1 Wörtlich übersetzt bedeutet Disease Mongering Handel mit Krankheiten. Payer hat Disease Mongering folgendermaßen beschrieben: Man versucht Leute, denen es gut geht, davon zu überzeugen, dass sie krank sind, oder leicht Kranke, dass sie schwer krank sind. Disease Mongering erweitert die Grenzen dessen, was im öffentlichen Bewusstsein als behandlungsbedürftige und behandelbare Krankheit wahrgenommen wird, um den Markt für diejenigen zu vergrößern, die eine Behandlung verkaufen. Ein entsprechendes deutsches Schlagwort lautet Krankheitserfindung.
1 Lynn Payer (1992): Disease-mongers: How doctors, drug companies, and insurers are making you feel sick, Hoboken, New Jersey 1992. Quelle: Gisela Schott (2015): Erfundene Krankheiten? Zur aktuellen Problematik des Disease Mongering, in: Arzneiverordnung in der Praxis, Ausgabe 4, Oktober 2015
Disease Mongering kennt mehrere Spielarten:
➞ Seltene Symptome werden als grassierende Krankheiten dargestellt (z. B. Erektionsstörungen).
➞ Normale Prozesse des Lebens werden als medizinisches Problem verkauft (z. B. Haarausfall).
➞ Leichte Symptome werden zu Vorboten schwerer Leiden aufgebauscht (z. B. Reizdarmsyndrom, Restless-Legs-Syndrom).
➞ Persönliche oder soziale Probleme werden in medizinische Probleme umgemünzt (z. B. social phobia).
➞ Risiken werden als Krankheit verkauft (z. B. geringe Knochendichte wird zu Osteoporose).
Beispiel: „Sisi-Syndrom“. Dieser Begriff tauchte erstmals 1998 in einer Werbeanzeige des Unternehmens SmithKline Beecham auf. Die betroffenen Patienten sind dem Konzern zufolge depressiv und gegebenenfalls mit Psychopharmaka zu behandeln. Allerdings überspielen sie ihre Krankheit, indem sie sich als besonders aktiv und lebensbejahend gäben. Seither hat das Schlagwort die Medien erobert und wird von Psychiatern propagiert. Inzwischen wird die Zahl der am Sisi-Syndrom erkrankten Deutschen bereits auf drei Millionen geschätzt. Die Medienpräsenz des Themas geht zurück auf Wedopress, eine PR-Firma in Oberursel, die von dem Pharmaunternehmen beauftragt worden war. Wedopress rühmt sich heute selbst für die „Einführung einer ‚neuen‘ Depression“.
Beispiel „Aging Male Syndrome“: Die Firmen Jenapharm und Dr. Kade/Besins Pharma versuchen, eine Krankheit bekannt zu machen, die angeblich Millionen von Männern im besten Alter heimsucht: „Aging Male Syndrome“ – die Menopause des Mannes. Auf Pressekonferenzen wird der „schleichende Verlust“ der Hormonproduktion des Mannes beklagt. Anlass für die Kampagne: Marktreife zweier Hormonpräparate, die seit Frühjahr 2003 in Deutschland zu bekommen sind. Vgl. dazu auch die beispielhaften Ausführungen zu den (angeblichen) „Wechseljahren des Mannes“ in dem Artikel von Gisela Schott.
Und wenn wir schon auf Gesundheit/Krankheit schauen, dann darf die „angebotsinduzierte Nachfrage“ nicht fehlen
Betrachtet man zunächst die Preiselastizität der Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen, dann ergibt sich aus theoretischer Sicht der unmittelbar plausible Befund, dass die Nachfrage im Kernbereich preisunelastisch ist, lediglich begrenzt durch die jeweilige Budgetrestriktion des Haushalts. Vereinfacht gesagt: Wenn eine Operation oder ein bestimmtes Medikament erforderlich sein sollten, um eine Erkrankung zu behandeln, dann werden die Nachfrager – soweit es ihnen individuell möglich ist – ohne eine besondere Sensibilität gegenüber der konkreten Preissetzung diese Dienstleistungen bzw. Produkte auch nachfragen (müssen). Sollte dies so sein, dann würde sich den Leistungserbringern, vor allem den Ärzten aufgrund der asymmetrischen Informationssituation, in dem sich der Patient befindet, grundsätzlich die Möglichkeit eröffnen, die Menge auszuweiten bzw. die Preise stärker als unter „Normalmarktbedingungen“ zu erhöhen. Die Abbildung verdeutlicht diese Gestaltungsspielräume der Angebotsseite, die dann im Endeffekt zu einer deutlichen Nachfrage- bzw. Preissteigerung führen würde:
Immer wieder verwenden Ökonomen an dieser Stelle den Begriff der „angebotsinduzierten Nachfrage“. Was muss man sich darunter vorstellen? Versuchen wir es mit dem Blick auf eine lexikalische Beschreibung, erstellt von Stefan Greß:
Angebotsinduzierte Nachfrage
Begriff: Phänomen u.a. im Gesundheitswesen. Die Informationsasymmetrie zwischen Arzt und Patient gibt dem Arzt die Möglichkeit, auf den Umfang der „Nachfrage“ nach seinen Leistungen zu seinem ökonomischen Vorteil Einfluss zu nehmen. Bei entsprechender Information über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten hätte der Patient diese Leistungen nicht nachgefragt.
Probleme: Die fehlende Konsumentensouveränität des Patienten verleitet den Arzt, mehr Leistungen zu erbringen und abzurechnen, als medizinisch notwendig gewesen wären.
Abgrenzung: Die Angebotsinduzierung wird im Gesundheitswesen häufig im Zusammenhang mit folgenden Gegebenheiten diskutiert:
a) Arztdichte – je mehr Ärzte tätig sind, umso mehr Leistungen werden pro Patient erbracht;
b) medizinischer Fortschritt – der Amortisationsdruck bei hohen Geräteinvestitionen setzt starke Anreize, nicht indizierte Leistungen zu erbringen.
Was ist davon zu halten?
Die These von der angebotsinduzierten Nachfrage basiert auf den folgenden Prämissen:
➞ Der Patient kann die Diagnosequalität nicht beobachten.
➞ Der Patient ist über die optimale Behandlung nicht informiert.
➞ Das ärztliche Einkommen bestimmt sich über die Art und Menge der erbrachten Leistungen.
➞ Bei „Unterauslastungen“ kann das Einkommen durch Behandlungen mit minimalen zusätzlichen Nutzen sowie durch unschädliche und/oder ineffiziente (Zusatz-)Behandlungen gesteigert werden.
In der Gesundheitsökonomie wird zur Einordnung dieses Phänomens immer wieder auf die Besonderheiten der Gesundheitsleistungen (mit dem Begriff soll verdeutlicht werden, dass wir es in der Regel mit Dienstleistungen zu tun haben) hingewiesen:
➔ Asymmetrische Informationsverteilung zwischen Anbieter und Nachfrager: Gesundheitsgüter sind Vertrauensgüter. Wegen dieser Eigenschaft wird den Anbietern im Gesundheitswesen häufig eine Anbieterdominanz zugesprochen. Der Arzt ist besser über die auf dem Gesundheitsmarkt verfügbaren Diagnose- und Therapieverfahren, die erforderlichen Leistungen und Medizinprodukte sowie deren Preise informiert. Zudem kann der Arzt das Ausmaß einer Krankheit besser einschätzen, und der Patient kann die Qualitäten des Arztes, der ärztlichen Leistungen und der sonstigen erforderlichen medizinischen Leistungen kaum beurteilen. Das Vertrauen des Patienten in die Kompetenz des Arztes ist eine bedeutsame Voraussetzung für den Erfolg der Behandlung.
➔ Immer wieder weisen Gesundheitsökonomen auf die Veränderung des Anreizsystems durch das Vorhandensein der Gesetzlichen Krankenversicherung hin: Der Versicherte habe keine Sparanreize mehr, da es die Grenzkosten der Inanspruchnahme von Leistungen erheblich senkt. Bei einer Vollversicherung „bezahlt“ der Patient angeblich nur mit seiner Zeit für die ärztlichen Leistungen. Dies führt zu einer Ausweitung der Gesundheitsnachfrage. Diese Erscheinung wird häufig mit dem Schlagwort „Moral Hazard“ bezeichnet. Dabei kann diese Ausweitung in drei Teile unterliegt werden. Erster Effekt: Die Zahl der Krankheitsfälle nimmt mit dem Umfang des Versicherungsschutzes zu. Zweiter Effekt: Wenn ein Krankheitsfall eintritt, werden aufwendigere Gesundheitsleistungen vom Patienten im Falle einer Versicherung nachfragt. Dritter Effekt: Anbieter von Leistungen und Gütern, deren Kosten der Nachfrager von Versicherungen ersetzt bekommt, reagieren auf die fehlende Gegenmacht der Nachfrager, erhöhen die Preise und bieten möglichst teure Lösungen an.
➔ Die Qualität ärztlicher Leistungen ist schwer messbar: Der Heilungserfolg ist in vielen Fällen schwer zu messen und er hängt nicht nur vom ärztlichen Bemühen, sondern auch von vielen anderen Faktoren ab, so individuellen und sozialen Faktoren. Und bei vielen Erkrankungen kann der Arzt nur langfristig Erfolge erzielen.
Aber seien und bleiben Sie kritisch: Ist es in der wirklichen Wirklichkeit tatsächlich so, dass man als Patient seine Leistungsinanspruchnahme ausweitet, weil man eine Krankenversicherung hat? Dass man deshalb gerne auf dem Stuhl beim Zahnarzt Platz nimmt? Zweifel an den Annahmen der Gesundheitsökonomen sind angebracht.