Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) mit der zentralen Kennzahl Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist von fundamentaler Bedeutung für das Wirtschaftsleben – an der Veränderung des BIP wird nicht nur allgemein das Wirtschaftswachstum festgemacht, sondern auch die konjunkturelle Entwicklung. Und gerade in der Politik ist die Fokussierung auf das BIP und seine Veränderung von großer Bedeutung.
Zu der besonderen Bedeutung des BIP in Politik und Wirtschaft vgl. auch diesen Artikel: Regieren nach Zahlen. Dort wird über die Arbeit des Politikwissenschaftlers Philipp Lepenies berichtet, der die Rolle, die statistische Indikatoren in der modernen Politik spielen, untersucht hat. „Indikatoren wird heutzutage eine einmalige und wichtige instrumentelle Rolle zugeschrieben“, so Lepenies, der das Forschungszentrum für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin leitet. „Der renommierte amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz hat das folgendermaßen ausgedrückt: Was wir messen, bestimmt unser Verhalten. Und wenn wir falsch messen, handeln wir falsch.“ Seit einigen Jahren schon gibt es in mehreren OECD-Staaten Bemühungen, Regierungen durch die Etablierung sogenannter alternativer Wohlfahrtsindikatoren dazu zu bewegen, sich weniger um Wirtschaftswachstum und stärker um die Erhöhung der Lebensqualität und der Zufriedenheit der Bürger zu kümmern.
»Der Grund für die Suche nach alternativen Indikatoren ist die weltweit dominierende Bedeutung eines speziellen Indikators: des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und seiner Veränderungsrate, dem Wirtschaftswachstum. Obwohl das BIP eigentlich nur den Wert der Produktion von Gütern und Dienstleistungen misst, habe es sich seit seiner Erfindung während des Zweiten Weltkriegs schnell zu einem Indikator gewandelt, der vermeintlich noch ganz andere Dinge abbildet, sagt Philipp Lepenies: die Wohlfahrt einer Gesellschaft, geopolitische Macht und den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung.«
»Die vergangenen Jahre allerdings hätten deutlich gezeigt, dass das BIP eben nicht geeignet sei, um Aussagen darüber zu treffen, wie gut es den Menschen in einem Land geht. „Die Zufriedenheit der Bürger hängt oft nicht mehr nur mit dem Wachstum oder dem Pro- Kopf-Einkommen zusammen“, sagt der Politikwissenschaftler. Außerdem würden die
Umweltfolgen des Wachstums durch das BIP nicht eingerechnet, sodass Konsum- und Produktionsweisen als erfolgreich gelten, die alles andere als nachhaltig seien – sondern eher zum Klimawandel beitrügen. Diese Fehler des BIP seien zwar schon lange bekannt, sagt Lepenies. Es sei aber auf der einen Seite besonders der Einfluss der sogenannten Glücksforschung und Verhaltensökonomie auf die Politik, die Regierungen davon überzeugt hätten, über alternative Messindikatoren nachzudenken und Parametern wie dem „Guten Leben“ verstärkte Bedeutung beizumessen. Auf der anderen Seite sei man gerade, weil man sich der mächtigen Position und der Dominanz des BIP bewusst sei, davon überzeugt, dass man Regierungshandeln durch alternative statistische Indikatoren verändern könne, sagt Lepenies: „Man glaubt an ein Regieren nach Zahlen.“«
Was im BIP auf alle Fälle fehlt: eine Menge Arbeit
Ein besonderes Problem besteht darin, dass ein für das Funktionieren einer Gesellschaft und damit der Volkswirtschaft fundamental wichtiger Bereich keinen Eingang findet in die zahlenmäßige Abbildung der Wertschöpfung: die unbezahlte Arbeit, beispielsweise die Hausarbeit und die Betreuungsarbeit in den Familien. Das ist durchaus ein Problem, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es ohne diese Arbeit in der Regel auch keine zahlenmäßig als Wertschöpfung erfasste bezahlte Arbeit geben könnte.
Mit einem Blick auf etwas ältere Beiträge für die Interessierten: Auch hier versuchen die Statistiker immer wieder einmal, zumindest schlaglichtartig die enorme Bedeutung der unbezahlten Arbeit auch in Geldeinheiten auszudrücken. Das können Sie in diesen Beitrag von mir nachlesen:
➔ Stefan Sell (2018): Die untrennbare andere Seite der bezahlten Erwerbsarbeit: Wertvolle unbezahlte Arbeit und die in Franken und Euro, in: Aktuelle Sozialpolitik, 05.01.2018
In dem Beitrag, der im ersten Teil Rechenergebnisse aus der Schweiz präsentiert, wird auch auf entsprechende Versuche einer Abschätzung der Größenordnung der unbezahlten Arbeit in Deutschland hingewiesen. Hierzu ergänzend diese Veröffentlichung:
➔ Norbert Schwarz und Florian Schwahn (2016): Entwicklung der unbezahlten Arbeit privater Haushalte. Bewertung und Vergleich mit gesamtwirtschaftlichen Größen, in: Wirtschaft und Statistik, Heft 2/2016: »Private Haushalte wendeten im Jahr 2013 für die unbezahlte Arbeit 35% mehr an Zeit auf als für die bezahlte Erwerbsarbeit. Anfang der 1990er-Jahre waren es sogar fast 50 % mehr. In der regelmäßigen Wirtschaftsberichterstattung ist die unbezahlte Arbeit jedoch nicht enthalten. Um die Versorgung mit Waren und Dienstleistungen umfassend abzubilden, darf die unbezahlte Arbeit aber nicht ausgeblendet werden. Selbst bei einer vergleichsweise vorsichtigen Bewertung beträgt der Wert der unbezahlten Arbeit etwa ein Drittel der im Bruttoinlandsprodukt ausgewiesenen Bruttowertschöpfung.«
Aus meinen neuen Beiträgen möchte ich Ihnen diese beiden Beiträge auf alle Fälle nahelegen – da bekommen Sie auch gleich eine Einführung in das so wichtige „Schatten“-Themenfeld dersogenannten Care-Arbeit oder auch als Sorge-Arbeit bezeichnet:
➔ Stefan Sell (2024): Die Sorgearbeit ist derzeit sicher. Weiterhin überwiegend eine Sache der Frauen, in: Aktuelle Sozialpolitik, 29.02.2024
➔ Stefan Sell (2024): Der unsichtbare Wert der Sorgearbeit und ein Versuch, diesen in Zahlen zu pressen, in: Aktuelle Sozialpolitik, 24.03.2024
Aber wieder zurück zu den „harten“ Zahlen, die in das Bruttoinlandsprodukt gegossen werden.
Vieles kann man besser verstehen, wenn man die Geschichte kennt: Wie das BIP zu der einen großen Zahl geworden ist
Man kann es in der VWL nicht oft genug betonen: Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) mit dem BIP im Zentrum ist von zentraler Bedeutung. Überall wird Ihnen das Bruttoinlandsprodukt und seine Veränderung begegnen: als Wirtschaftswachstum, als Indikator für die konjunkturelle Entwicklung. Politikerreden können und wollen nicht ohne den ständigen Bezug auf das Wirtschaftswachstum auskommen.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie bitten, die folgende Sendung anzuhören oder aber – für diejenigen unter Ihnen, die das lieber lesen – den Text zu studieren:
➔ Kristin Langen und Leonie Sontheimer (2020): Vom Zauber einer Zahl. Die Erfindung des Wirtschaftswachstums, Deutschlandfunk Kultur, 22.04.2020
»Wie ein delphisches Orakel werden regelmäßig Zahlen des Wirtschaftswachstums bekannt gegeben. Dass Staaten lange ohne die Ermittlung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auskamen – kaum vorstellbar. Dabei ist die Entstehung des BIP nicht lange her.«