Ich habe in der letzten Vorlesung versucht, Ihnen einen Einstieg zu ermöglichen in die beiden großen konzeptionellen Schneisen, die man in das große, weite Feld der Wirtschaftspolitik schlagen kann. Ausgehend von der Ihnen vorliegenden Abbildung mit den Einflussfaktoren auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und das gesamtwirtschaftliche Angebot habe ich versucht zu erläutern, dass man üblicherweise in der Wirtschaftswissenschaft zwischen nachfrage- und angebotsorientierter Wirtschaftspolitik unterscheidet. Abhängig davon, auf welcher Seite der Gesamtwirtschaft man versucht, mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen bestimmte Effekte zu erreichen.
In der Ihnen zugänglichen Literatur – denken Sie bitte an die Liste mit den für Sie frei zugänglichen Lehrbüchern zur VWL und Wirtschaftspolitik – finden Sie überall Ausführungen dazu, was man sich unter diesen beiden Grundkonzepten vorstellen muss. In diesem Kontext werden Ihnen immer auch die Namen bedeutsamer Ökonomen begegnen: Für die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik John Maynard Keynes. Der britische Ökonom hat in den 1930er Jahren in der kritischen Auseinandersetzung mit der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre mit seinem Hauptwerk The General Theory of Employment, Interest and Money (1936) die Grundlagen der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik gelegt (weiterführende Information zu diesem bedeutsamen Ökonomen finden Sie bei Interesse auf den Seiten der deutschen Keynes-Gesellschaft, in der sich vor allem die deutschsprachigen Ökonomen organisiert haben, die vollständig oder teilweise den Vorstellungen von Keynes folgen). In den 1950er und 1960er bis hinein in die 1970er Jahre war der Keynesianismus und die damit verbundene nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik weltweit der Mainstream in der westlichen Volkswirtschaftslehre. In den 1970er Jahren hat sich dann eine „Gegenbewegung“ zu der damals vorherrschenden nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik entwickelt und dann nicht nur bei vielen Ökonomen Anklang gefunden, sondern auch im politischen Raum aufgegriffen wurde (z.B. durch Thatcher in Großbritannien, Reagan in den USA und auch Helmut Kohl in Deutschland ab 1982 stehen für diese Richtung): die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, der mittlerweile der Mainstream der deutschen Volkswirte folgt. So ändern sich die Zeiten. Was natürlich nicht bedeutet, dass die keynesianische Wirtschaftspolitik deshalb falsch ist, weil die Mehrheit der deutschen Volkswirte eher oder vollständig angebotsorientiert argumentiert. Auch Mehrheiten können daneben liegen 😉 Als einer der bedeutsamen Ökonomen, dessen Namen immer wieder mit einer fundamentalen Kritik am Keynesianismus verbunden wird (und der vor allem für den sogenannten Monetarismus steht), ist Milton Friedman (vgl. beispielsweise diesen Artikel: Martin Leschke (2012): Milton Friedman: Nicht nur ein „Monetarist“!, in: Wirtschaftsdienst, Heft 8/2012).
Hier mal einer der vielen Versuche einer Abgrenzung der beiden Grundkonzeptionen:

Immer wieder wird das als ein „Entweder-Oder“ dargestellt, in der wirtschaftspolitischen Praxis sehen wir oftmals aber keinen Schwarz-Weiß-Umgang mit den unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Konzepten, sondern einen Mix aus angebots- und nachfrageorientierten Maßnahmen. Das scheint auch vernünftig angesichts der Komplexität vieler ökonomischer und gesellschaftlicher Probleme, mit denen wir es zu tun haben.
Ich habe versucht, Ihnen mit auf den Weg zu geben, dass man viele wirtschaftspolitischen Kontroversen, mit denen Sie konfrontiert werden, besser verstehen und einordnen kann, wenn man die unterschiedlichen Sichtweisen und Zugänge kennt, die mit einer nachfrage- und angebotsorientierten Perspektive verbunden sind bzw. sein können.
Konkret habe ich das erläutert am Beispiel gesetzlicher Mindestlohn. Der feiert gerade seinen 10. Geburtstag, denn der der Mindestlohn als gesetzliche Lohnuntergrenze (für fast alle) wurde am 1. Januar 2015 eingeführt, damals mit 8,50 Euro brutto pro Stunde. Im Vorfeld der Einführung des Mindestlohns gab es eine höchst strittige Debatte, in der viele Ökonomen angebotsseitig argumentiert und massive Beschäftigungsverluste vorausgesagt haben, während hingegen eher nachfrageorientierte Ökonomen auf die möglichen positiven gesamtwirtschaftlichen Folgen abgestellt haben. In diesem Zusammenhang haben Sie auch lernen können, dass es einen „Doppelcharakter des Lohnes“ gibt. Erinnern Sie sich noch?
Wo stehen wir Anfang 2025 und was wird wirtschaftspolitisch empfohlen?
Zum Ende des Semesters und nach der intensiven Behandlung von notwendigerweise vielen Einzelthemen aus der Volkswirtschaftslehre macht es Sinn, wenn man wieder die Dinge zusammenzubinden versucht. Und dazu habe ich Ihnen im Materialordner auf der Olat-Seite diese neue Veröffentlichung zur Verfügung gestellt und Ihnen mit auf den Weg gegeben, die Ausführungen zu lesen. Sie werden dort auf viele behandelten Themen (und Begriffe) stoßen:
➔ Sebastian Dullien et al. (2025): Modell Deutschland neu justieren – Nachfrage und Innovationen stärken – Wirtschaftspolitische Herausforderungen 2025. IMK Report Nr. 194, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Januar 2025
»Deutschlands Wirtschaft stagniert seit zwei Jahren und das Bruttoinlandsprodukt ist kaum höher als vor fünf Jahren. Die Rahmenbedingungen für Deutschlands exportorientiertes Wirtschaftsmodell haben sich drastisch geändert. Ohne zügige wirtschaftspolitische Maßnahmen droht der industrielle Kern der deutschen Wirtschaft wegzubrechen. Die aktuelle Diskussion erinnert an die Reformdebatte der frühen 2000er Jahre. Damals wie heute waren die Unternehmen deutlich besser aufgestellt als vielfach wahrgenommen. Allerdings muss das Modell Deutschland an die neuen Gegebenheiten, insbesondere infolge der geostrategischen Ausrichtung von China und den USA, angepasst werden. Dabei ist eine hinreichende Binnennachfrage erforderlich, damit Exportorientiertheit mit steigenden Einkommen und einer tendenziell ausgeglichenen Leistungsbilanz vereinbar ist. Am dringlichsten ist die Überwindung der aktuellen Nachfrageschwäche durch eine Fiskalpolitik, die notwendige Infrastrukturinvestitionen auf den Weg bringt und ein günstiges Umfeld für private Investitionen und Innovationen schafft, sowie eine Beendigung der geldpolitischen Restriktion. Eine gezielte und auf EU-Ebene abgestimmte Industriepolitik sowie Maßnahmen zur Verringerung des Strompreises sind ebenso erforderlich wie eine neue Balance zwischen Regulierung und Innovationsfähigkeit.«
Nun muss man wissen, dass diese Veröffentlichung aus dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) kommt, ein Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Und die dort arbeitenden und forschenden Ökonomen sind nun überwiegend nachfrageorientierte Ökonomen, die keynesianische Positionen vertreten. Das wird man merken, wenn man den Text liest.
Um mich nicht dem Vorwurf der Einseitigkeit auszusetzen, habe ich Ihnen ergänzend einen Text zur Verfügung gestellt, der aus der „anderen Ecke“ des Spektrums stammt. Also von einem eher angebotsorientierten Ökonomen, in diesem Fall Michael Hüther, immerhin Direktor des von den Arbeitgebern finanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft (IW):
➔ Michael Hüther (2025): Eine Agenda für die neue Legislaturperiode. Wettbewerbsfähigkeit und Transformation. IW-Policy Paper, Nr. 1/2025, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Januar 2025
»Die deutsche Volkswirtschaft hat seit längerem mit strukturellen Veränderungen und Anpassungen zu kämpfen. Zusätzlich kann die deutsche Wirtschaft nicht mehr in dem Maße wie früher von der Weltkonjunktur profitieren. Dies ist auf einen Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft sowie auf zunehmende geopolitische Risiken zurückzuführen. Die wirtschaftlich angespannte Lage wird durch unzureichende private und öffentliche Investitionen weiter verschärft. Insbesondere die staatlichen Investitionen bleiben deutlich hinter internationalen Vergleichswerten zurück, was dazu führt, dass die Infrastruktur veraltet und notwendige Modernisierungseffekte ausbleiben. Dies gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft und führt zu stagnierender Produktivität sowie äußerst schwachen Wachstumsprognosen. Die klimapolitischen Verpflichtungen, den umfassenden Strukturwandel bis 2045 umzusetzen, definieren neue Anforderungen an die Wirtschaftspolitik.
Die wirtschaftspolitische Antwort auf diese Herausforderungen muss eine konsequente Angebotspolitik sein, die Investitionen und Innovationen in den Mittelpunkt stellt. Neben gezielten Investitionsförderungen sind eine umfassende Deregulierung sowie die Senkung steuerlicher Belastungen für Unternehmen unerlässlich. Auch eine Reform der Strompreise und Sozialbeiträge ist unabdingbar. Dabei müssen die wirtschaftspolitischen Maßnahmen die Rahmenbedingungen berücksichtigen, darunter die demografische Alterung, die Transformation zur Klimaneutralität und die geopolitischen Unsicherheiten verbunden mit einer neudefinierten Verteidigungspolitik. Eine kooperative und kohärente Strategie zwischen Lohn-, Finanz- und Geldpolitik ist entscheidend, um stabile Erwartungen zu schaffen und nachhaltiges Wachstum zu sichern. Bisher fehlt es an einer überzeugenden, gesamtwirtschaftlichen Erzählung für eine gelingende Transformation. Die neue Bundesregierung muss dies ernst nehmen und die Handlungsräume durch nachhaltige Finanzierung und Marktöffnung erweitern.«
Aber für diejenigen, die beide Texte studiert haben oder es noch tun: Interessant ist, dass es wirtschaftspolitisch durchaus ein sehr interessante Gemeinsamkeit gibt zwischen beiden „Lagern“, also sowohl von der nachfrage- wie auch der Angebotsseite wird an einer zentralen Stelle sehr vergleichbar argumentiert. Ist es Ihnen aufgefallen?