Ich hatte Ihnen in der Vorlesung als Fallbeispiel aus dem Themenfeld Marktversagen und dem Problem asymmetrischer Information – das nicht nur, aber gerade in der Versicherungsökonomie eine bedeutsame Rolle spielt – die privatisierte Absicherung des Risikos Berufsunfähigkeit mit auf den Weg gegeben.
Dazu gehörte auch ein Arbeitsauftrag: Sie sollten zum einen ermitteln, wie teuer Sie monatlich eine Absicherung des Risikos der Berufsunfähigkeit kommt, also wie hoch wäre Ihr Beitrag, den Sie an die Versicherung zu zahlen haben, jeweils für einen Berufsanfänger in der BWL und im Vergleich dazu für einen mit der Berufsausbildung Fleischer/Fleischerin – wobei Sie bei der Ermittlung der zu zahlenden Beiträge von Ihrem aktuellen Alter ausgehen sollten, also bei den meisten zumindest kalendarisch noch ein sehr junges Alter. Hintergrund war die im Fallbeispiel als „Berufsgruppen-Bingo“ angesprochene ganz unterschiedliche Bepreisung unterschiedlicher Berufe nach ihrem (statistischen) Risiko, dass es zu einem Versicherungsfall kommt. Die Ergebnisse derjenigen, die sich beteiligt haben, belegt diese These.

Man kann auf einen Blick erkennen, dass wir gerade bei dem ausgewählten Handwerksberuf von monatlichen Beiträgen ausgehen, die sicher eine prohibitiv hohe Wirkung auf junge Menschen haben und im Ergebnis zu einer Nicht-Absicherung des Risikos führen werden. Gerade bei denen, die eigentlich besonders auf eine Absicherung angewiesen wären.
Dahinter steht explizit oder implizit die Annahme bzw. den statistischen Tatbestand, dass es in den handwerklichen Berufen höhere Risikowerte für eine BU gibt, beispielsweise aufgrund der körperlichen Belastung. In diesem Zusammenhang und mit Blick auf die für BWLer eher typischen Schreibtischberufe sollte man aber genauer hinschauen auf die Entwicklung der Ursachen und ihrer Anteilswerte im Bereich der Berufsunfähigkeit. Dazu wurden aktuell diese Daten präsentiert:
➔ »Über ein Drittel der Leistungsfälle seien auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Weitere Ursachen finden sich vor allem in Erkrankungen des Skelett- und Bewegungsapparates sowie in Krebs und bösartigen Geschwülsten«, so dieser Artikel, der am 8. Mai 2025 veröffentlicht wurde: Berufsunfähigkeit: BU-Analyse zeigt häufigste Ursachen. »Das Aus im Beruf ist längst nicht mehr hauptsächlich auf schwere körperliche Arbeiten zurückzuführen, sondern auf psychische Krankheiten. Das geht aus Zahlen hervor, die das Analysehaus Morgen & Morgen vorgestellt hat. Für 35,75 Prozent aller Versicherten waren Nervenerkrankungen die Ursache für eine Berufsunfähigkeit … Vor zehn Jahren lag der Anteil bei etwa 20 Prozent der Fälle.« Das ist schon ein heftiger Anstieg.
Auch interessant: Das trifft vor allem auf jüngere Menschen zu: »Die Aufschlüsselung nach Altersstufen zeigt, dass sich die Nervenerkrankungen als Hauptursache in allen Altersgruppen durchzieht. Folglich sind verstärkt auch jüngere Menschen von Nervenkrankheiten betroffen und scheiden daher aus dem Berufsleben aus. Während bei den bis 40-Jährigen immerhin 39,73 Prozent aufgrund von Nervenkrankheiten berufsunfähig werden, sind es bei den 41- bis 50-Jährigen nur 35,13 Prozent. Bei den über 50-Jährigen liegt der Anteil sogar bei 29,57 Prozent.« Vgl. dazu auch den Beitrag Psychische Erkrankungen bei jungen Erwachsenen auf Rekordhoch, der einen beunruhigenden Anstieg der psychischen Erkrankungen bei jungen Menschen konstatiert.
Zweithäufigster Grund für das Aus im Beruf sind laut der Studie Erkrankungen des Bewegungsapparates – also von Rücken, Gelenken, Muskeln oder Knochen.
Wie begegnet die Versicherungswirtschaft dem Vorwurf, dass bestimmte, z.B. handwerkliche Berufe, keine bezahlbare BU-Absicherung finden können?
Ein häufiger Vorbehalt gegenüber der BU-Versicherung ist, dass Berufe mit hohem Risiko wie etwa bei Handwerkern kaum Zugang haben. Ist das nur ein Mythos? Dazu aus diesem Artikel, der schon im Titel die Antwort ausformuliert: Berufsunfähigkeitsabsicherung: ‚Auch für Handwerker selbstverständlich möglich‘. Das sei eine „pauschale Aussage“, die „zu kurz“ greife. Dann wird schwammig auf ein Angebot hingewiesen, das »passgenaue Leistungen (bietet) und … so konzipiert (ist), dass die Beiträge flexibel und individuell an unterschiedliche Lebensphasen angepasst werden können – etwa bei Weiterbildungen zum Techniker oder Meister.« Hört sich nach Marketing-Sprech an. Und dann wird gleich nachgeschoben:
»Richtig ist allerdings auch: Es gibt einzelne Berufe, die nur eingeschränkt oder gar nicht versicherbar sind. Dazu zählen beispielsweise Bergführer oder Industrietaucher – also Tätigkeiten mit besonders hohen oder schwer kalkulierbaren Risiken. Vielleicht überraschend: auch Berufe wie Künstler oder Influencer können unter diese Gruppe fallen.«
Wieso sind Künstler und Influencer nicht versicherbar, wird sich der eine oder andere fragen. Hier der Antwortversuch aus dem Artikel:
»In dieser Berufsgruppe treffen gleich mehrere spannende Faktoren aufeinander: Zum einen lässt sich das Einkommen aufgrund teils großer Schwankungen nicht immer leicht einschätzen. Zum anderen ist das Berufsbild oft sehr individuell geprägt und kann – je nach Ausgestaltung – auch mit höheren Risiken verbunden sein, etwa im Bereich von Extremsportarten. Hinzu kommt die besondere mentale Herausforderung, dauerhaft in der Öffentlichkeit zu stehen und mediale Präsenz zu zeigen – ein Aspekt, der nicht unterschätzt werden sollte Kurzum: Die Risikobewertung gestaltet sich hier anspruchsvoller, weil viele Variablen zusammenkommen.«
Dieser kurze Ausflug mag die grundsätzlichen Vorbehalte, dass die Privatisierung eines existenziellen Lebensrisikos in einer Erwerbsarbeitsgesellschaft ohne Schutzvorgaben für die Betroffenen eine schlechte Idee war, nicht wirklich entkräften.
Exkurs: Wirklich jeder Vierte?
»Jeder Vierte wird im Laufe seines Berufslebens … mindestens einmal berufsunfähig. Oft geht es dabei nicht um Unfälle, sondern um Krankheiten der Psyche wie Depressionen oder Burnout oder Zivilisationskrankheiten wie Krebs«, so beginnt dieser Artikel: Wie die eigene Arbeitskraft abgesichert werden kann. In der Öffentlichkeit wird der Wahrheitsgehalt dieser Aussage aber vielfach bezweifelt. Denn den Kritikern erscheint es unrealistisch, dass jeder vierte Erwerbstätige vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheidet. Dann schauen wir mal bei der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) nach, dort haben sich die Versicherungsmathematiker zusammengeschlossen und die müssten ja nun am besten rechnen können. Bereits 2018 wurde von denen dieser Beitrag veröffentlicht: Jeder Vierte wird berufsunfähig. Die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) hat die Aussage an Hand der ihr vorliegenden Daten überprüft. Und die machen korrekt wie sie sind gleich diese methodisch wichtigen Vorbemerkungen:
»Zwei Aspekte sind dabei zu beachten: Zum einen berücksichtigen die Daten nur privat gegen Berufsunfähigkeit abgesicherte Personen. Im Jahr 2017 gab es laut des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) knapp 17 Millionen Versicherungsverträge, die gegen eine Berufsunfähigkeit absichern – bei rund 44 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland. Damit ist etwa gut ein Drittel der Erwerbspersonen privat abgesichert, je nachdem wie viele Versicherte mehr als einen Versicherungsvertrag abgeschlossen haben. Die Daten des Kollektivs der privat abgesicherten Personen sind somit nicht unbedingt auf die Gesamtbevölkerung übertragbar, auch wenn frühere Erfahrungswerte unter anderem der gesetzlichen Rentenversicherung den nachfolgenden Ergebnissen sehr ähneln.
Zum anderen weicht der Begriff der Berufsunfähigkeit in der Privatwirtschaft deutlich von der Definition der Erwerbsminderung ab, wie sie heute in der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichert ist. Bei einer privaten Absicherung gegen die Berufsunfähigkeit geht es immer darum, ob dem zuletzt ausgeübten Beruf noch nachgegangen werden kann. Ist dies nicht der Fall, so greift der Versicherungsschutz. Die Erwerbsminderung in der gesetzlichen Rentenversicherung schützt dagegen nur vor dem Risiko, alle existierenden Berufe nicht mehr ausüben zu können. Eine Erwerbsminderung liegt deshalb nicht notwendigerweise vor, wenn der zuletzt ausgeübten Tätigkeit nicht mehr nachgegangen werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, berufsunfähig zu werden, ist daher höher als die Wahrscheinlichkeit, erwerbsgemindert zu werden.«
Die Versicherungsmathematiker arbeiten mit der „DAV 1997 I“. Was ist das nun wieder?
»Die Tabelle enthält die Wahrscheinlichkeit für privat abgesicherte Erwerbstätige, im Laufe des Berufslebens mindestens einmal berufsunfähig zu werden. Dabei werden unterschiedliche Eintrittsalter sowie Rentenbeginnalter betrachtet. Die Wahrscheinlichkeit liegt für die untersuchten Alter zwischen 15,8 und 28,5 Prozent. Das heißt, je nach Alter bei Eintritt in das Erwerbsleben und beim Übergang in die Rente wird jeder vierte, fünfte oder sechste privat gegen Berufsunfähigkeit abgesicherte Erwerbstätige im Laufe seines Erwerbslebens mindestens einmal berufsunfähig. So werden zum Beispiel von allen Frauen mit Erwerbsbeginn im Alter 20 bis zum Alter 62 knapp 20 Prozent oder jede Fünfte mindestens einmal berufsunfähig.«
Für privat gegen Berufsunfähigkeit abgesicherte Erwerbstätige liegt die Wahrscheinlichkeit einer Berufsunfähigkeit im Laufe des Arbeitslebens im Mittel 25 Prozent. Dies bestätigt die Aussage „Jeder Vierte wird berufsunfähig“.
»Das Risiko, berufsunfähig zu werden, hängt neben dem Eintrittsalter in das Erwerbsleben und dem Alter bei Rentenübergang zweifellos auch vom ausgeübten Beruf ab. Für bestimmte Berufsgruppen können deshalb auch Aussagen wie „Jeder Dritte wird berufsunfähig“ oder „Jeder Fünfte wird berufsunfähig“ richtig sein.« Hierzu haben aber selbst die Versicherungsmathematiker (angeblich) keine Daten.
Und die Quote ist wohl erstaunlich konstant (hoch), trotz einer sich rapide verändernden Arbeitswelt:
»Die Aussage „Jeder Vierte wird berufsunfähig“ beschreibt die Realität schon seit mindestens 20 Jahren treffend und dies trotz der starken Veränderungen in der Arbeitswelt. Der deutliche Rückgang von körperlich anstrengenden Tätigkeiten hat anscheinend keinen oder nur einen geringen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Berufslebens mindestens einmal berufsunfähig zu werden. Denn die Gründe für den Eintritt einer Berufsunfähigkeit verschieben sich: Waren früher vor allem der Bewegungsapparat und das Herz-Kreislauf-System die Ursachen für ein Ausscheiden aus dem Beruf, so spielt heute die Psyche die zentrale Rolle.«
Fazit: »Die Berufsunfähigkeit ist ein vielfach unterschätztes Risiko, das auch in Zeiten der Digitalisierung und Automatisierung der Arbeitsprozesse nicht geringer wird. Vielmehr verschieben sich mit den neuen Arbeitsbedingungen nur die Gründe für die Berufsunfähigkeit.«
Natürlich könnte man auch die launige These aufstellen, dass die das nur deshalb mit dem Ergebnis ausgerechnet haben, weil ihre Arbeitgeber, also die Versicherungen, davon profitieren, wenn mehr Menschen aus Sorge, zu dem Viertel zu gehören, eine BU-Versicherung abschließen. Aber sowas machen die bestimmt nicht. Und selbst wenn, wären wir wieder am Anfang des Beitrags, denn viele werden sich schlichtweg eine solche Versicherung nicht leisten können. Dann hilft nur beten.