Grow, baby, grow! Die Hoffnung mit dem Wirtschaftswachstum. Und immer wieder: Die eine große Zahl und was darin (nicht) enthalten ist

Es ist Ihnen sicherlich deutlich geworden, dass das, was als Wirtschaftswachstum bezeichnet (und das wir an der Veränderung der am BIP gemessenen volkswirtschaftlichen Wertschöpfung bestimmen), von einer fundamentalen Bedeutung ist. Nicht nur in der VWL im engeren Sinne, sondern auch in fast jeder Politikerrede wird man nicht verschont von der Forderung nach oder der Inaussichtstellung von „mehr Wachstum“. In Deutschland könnte man hinzufügen: Es wäre ja schon ein Erfolg, wenn man nach drei Jahren der Stagnation und Rezession überhaupt irgendein positives Wirtschaftswachstum hätte. Allerdings, das haben Sie auch schon gelernt, korrigieren zahlreiche Akteuere ihre Prognosen für das laufende Jahr ein sowieso schon überschaubar niedriges Wirtschaftswachstum weiter nach unten, auf die Nulllinie oder manche Spielverderber sogar unter die Nulllinie.

Auch die am 14. März 2025 vor dem Deutschen Bundestag abgegebenen ersten Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers Friedrich Merz (CDU) ist gleichsam gespickt mit Wirtschaftswachstum hier, Wirtschaftswachstum dort.

Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Friedrich Merz vom 14.05.2025 können Sie hier als ➞ PDF-Datei nachlesen.

Bundeskanzler Friedrich Merz hat ehrgeizige Pläne: Vom „Wohlstand für alle“ war in seiner ersten Regierungserklärung die Rede und vom Kampf gegen Rezession und Wachstumsschwäche. Deutschland könne zur „Wachstumslokomotive“ werden, so der CDU-Politiker. Das kann man diesem Artikel von Cluadia Wehrle aus der ARD-Finanzredaktion entnehmen: Wie Merz die Wirtschaft aus der Krise holen will: »Ideen gibt es viele, wie die deutsche Wirtschaft wieder in Schwung gebracht werden soll. Bundeskanzler Merz rechnet mittelfristig mit einem Wachstum von zwei Prozent. Doch viele Ökonomen sind skeptisch.«

Deutschland ist Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum und Gründe dafür gibt es viele: »Die hohen Energiepreise spielen eine wichtige Rolle. Es gibt mehr Konkurrenz auf wichtigen Absatzmärkten. Der Wandel in der Industrie beschleunigt sich. Energieintensive Branchen reduzierten ihre Produktion und die Automobilbranche setzt ihren Abwärtstrend fort. Und hausgemachte Probleme kommen noch hinzu. Dazu gehört etwa eine marode Infrastruktur im Land, die schleppende Digitalisierung, eine lähmende Bürokratie und nicht zuletzt fehlende Innovationsanreize in vielen Branchen.«

Die neue Bundesregierung will da nun gegensteuern.“Das Wirtschaftswachstum in Deutschland soll wieder ansteigen, mittelfristig auf jährlich mindestens zwei Prozent“, so Bundeskanzler Friedrich Merz im Wahlkampf. „Unser Ziel ist es, das Potenzialwachstum wieder auf deutlich über ein Prozent zu erhöhen“, steht im Koalitionsvertrag.

Viele Ökonomen sind skeptisch. „Zwei Prozent Wirtschaftswachstum wird es in den kommenden Jahren kaum geben“, so Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Bank. Er verweist auf die Produktivität in vielen Betrieben. Es fehle zudem an Investitionen aus dem öffentlichen Bereich und aus der privaten Wirtschaft. Und dann sind da noch die Folgen des demografischen Wandels. In den kommenden Jahren werden die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer, in Rente gehen. „Sie werden eine Lücke auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen“, so Brzeski. Aus dem Mangel an Fach- und Führungskräften ist längst ein Mangel an Arbeitskräften geworden – und das hat Auswirkungen auf die Produktion und auf die gesamte Dienstleistungsbranche im Land.

Lichtblicke am Horizont: »Von den geplanten Investitionen in Verteidigung, Klimaschutz und Infrastruktur werden positive Impulse ausgehen, glauben viele Ökonomen. In diesen Bereichen werden Arbeitsplätze geschaffen. Es wird Wachstum geben. Aber man dürfe sich das nicht so vorstellen, dass ein Hebel umgelegt werden kann und dann ist die Welt wieder in Ordnung. „Bis Maßnahmen wirken, können Monate ins Land gehen“, betont Brzeski von der ING. „Die Frage ist auch, wieviel kommt bei den einzelnen Unternehmen an?“.«

Und dann kommen sie wieder, diese Prognosen:

»Prognosen abzugeben ist schwer. Viel hängt davon ab, wie es in Sachen Zollstreitigkeiten mit den USA weitergehen wird und in welchem Zeitraum die neue Bundesregierung ihre Vorhaben umsetzten kann.«

Die eine große bedeutsame Zahl – das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Und was da (nicht) enthalten ist

Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) mit der zentralen Kennzahl Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist von fundamentaler Bedeutung für das Wirtschaftsleben – an der Veränderung des BIP wird nicht nur allgemein das Wirtschaftswachstum festgemacht, sondern auch die konjunkturelle Entwicklung. Und gerade in der Politik ist die Fokussierung auf das BIP und seine Veränderung von großer Bedeutung.

Zu der besonderen Bedeutung des BIP in Politik und Wirtschaft vgl. auch diesen Artikel: Regieren nach Zahlen. Dort wird über die Arbeit des Politikwissenschaftlers Philipp Lepenies berichtet, der die Rolle, die statistische Indikatoren in der modernen Politik spielen, untersucht hat. „Indikatoren wird heutzutage eine einmalige und wichtige instrumentelle Rolle zugeschrieben“, so Lepenies, der das Forschungszentrum für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin leitet. „Der renommierte amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz hat das folgendermaßen ausgedrückt: Was wir messen, bestimmt unser Verhalten. Und wenn wir falsch messen, handeln wir falsch.“ Seit einigen Jahren schon gibt es in mehreren OECD-Staaten Bemühungen, Regierungen durch die Etablierung sogenannter alternativer Wohlfahrtsindikatoren dazu zu bewegen, sich weniger um Wirtschaftswachstum und stärker um die Erhöhung der Lebensqualität und der Zufriedenheit der Bürger zu kümmern.

»Der Grund für die Suche nach alternativen Indikatoren ist die weltweit dominierende Bedeutung eines speziellen Indikators: des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und seiner Veränderungsrate, dem Wirtschaftswachstum. Obwohl das BIP eigentlich nur den Wert der Produktion von Gütern und Dienstleistungen misst, habe es sich seit seiner Erfindung während des Zweiten Weltkriegs schnell zu einem Indikator gewandelt, der vermeintlich noch ganz andere Dinge abbildet, sagt Philipp Lepenies: die Wohlfahrt einer Gesellschaft, geopolitische Macht und den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung.«

»Die vergangenen Jahre allerdings hätten deutlich gezeigt, dass das BIP eben nicht geeignet sei, um Aussagen darüber zu treffen, wie gut es den Menschen in einem Land geht. „Die Zufriedenheit der Bürger hängt oft nicht mehr nur mit dem Wachstum oder dem Pro- Kopf-Einkommen zusammen“, sagt der Politikwissenschaftler. Außerdem würden die
Umweltfolgen des Wachstums durch das BIP nicht eingerechnet, sodass Konsum- und Produktionsweisen als erfolgreich gelten, die alles andere als nachhaltig seien – sondern eher zum Klimawandel beitrügen. Diese Fehler des BIP seien zwar schon lange bekannt, sagt Lepenies. Es sei aber auf der einen Seite besonders der Einfluss der sogenannten Glücksforschung und Verhaltensökonomie auf die Politik, die Regierungen davon überzeugt hätten, über alternative Messindikatoren nachzudenken und Parametern wie dem „Guten Leben“ verstärkte Bedeutung beizumessen. Auf der anderen Seite sei man gerade, weil man sich der mächtigen Position und der Dominanz des BIP bewusst sei, davon überzeugt, dass man Regierungshandeln durch alternative statistische Indikatoren verändern könne, sagt Lepenies: „Man glaubt an ein Regieren nach Zahlen.“«

Was im BIP auf alle Fälle fehlt: eine Menge Arbeit

Ein besonderes Problem besteht darin, dass ein für das Funktionieren einer Gesellschaft und damit der Volkswirtschaft fundamental wichtiger Bereich keinen Eingang findet in die zahlenmäßige Abbildung der Wertschöpfung: die unbezahlte Arbeit, beispielsweise die Hausarbeit und die Betreuungsarbeit in den Familien. Das ist durchaus ein Problem, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es ohne diese Arbeit in der Regel auch keine zahlenmäßig als Wertschöpfung erfasste bezahlte Arbeit geben könnte.
Mit einem Blick auf etwas ältere Beiträge für die Interessierten: Auch hier versuchen die Statistiker immer wieder einmal, zumindest schlaglichtartig die enorme Bedeutung der unbezahlten Arbeit auch in Geldeinheiten auszudrücken. Das können Sie in diesen Beitrag von mir nachlesen:
➔ Stefan Sell (2018): Die untrennbare andere Seite der bezahlten Erwerbsarbeit: Wertvolle unbezahlte Arbeit und die in Franken und Euro, in: Aktuelle Sozialpolitik, 05.01.2018

In dem Beitrag, der im ersten Teil Rechenergebnisse aus der Schweiz präsentiert, wird auch auf entsprechende Versuche einer Abschätzung der Größenordnung der unbezahlten Arbeit in Deutschland hingewiesen. Hierzu ergänzend diese Veröffentlichung als Quellenhinweis:

➔ Norbert Schwarz und Florian Schwahn (2016): Entwicklung der unbezahlten Arbeit privater Haushalte. Bewertung und Vergleich mit gesamtwirtschaftlichen Größen, in: Wirtschaft und Statistik, Heft 2/2016: »Private Haushalte wendeten im Jahr 2013 für die unbezahlte Arbeit 35% mehr an Zeit auf als für die bezahlte Erwerbsarbeit. Anfang der 1990er-Jahre waren es sogar fast 50 % mehr. In der regelmäßigen Wirtschaftsberichterstattung ist die unbezahlte Arbeit jedoch nicht enthalten. Um die Versorgung mit Waren und Dienstleistungen umfassend abzubilden, darf die unbezahlte Arbeit aber nicht ausgeblendet werden. Selbst bei einer vergleichsweise vorsichtigen Bewertung beträgt der Wert der unbezahlten Arbeit etwa ein Drittel der im Bruttoinlandsprodukt ausgewiesenen Bruttowertschöpfung.«

Aus meinen neuen Beiträgen möchte ich Ihnen diese beiden Beiträge auf alle Fälle nahelegen – da bekommen Sie auch gleich eine Einführung in das so wichtige „Schatten“-Themenfeld der sogenannten Care-Arbeit oder auch als Sorge-Arbeit bezeichnet:

➔ Stefan Sell (2024): Die Sorgearbeit ist derzeit sicher. Weiterhin überwiegend eine Sache der Frauen, in: Aktuelle Sozialpolitik, 29.02.2024

➔ Stefan Sell (2024): Der unsichtbare Wert der Sorgearbeit und ein Versuch, diesen in Zahlen zu pressen, in: Aktuelle Sozialpolitik, 24.03.2024

Aber wieder zurück zu den „harten“ Zahlen, die in das Bruttoinlandsprodukt gegossen werden.

Vieles kann man besser verstehen, wenn man die Geschichte kennt: Wie das BIP zu der einen großen Zahl geworden ist

Man kann es in der VWL nicht oft genug betonen: Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) mit dem BIP im Zentrum ist von zentraler Bedeutung. Überall wird Ihnen das Bruttoinlandsprodukt und seine Veränderung begegnen: als Wirtschaftswachstum, als Indikator für die konjunkturelle Entwicklung. Politikerreden können und wollen nicht ohne den ständigen Bezug auf das Wirtschaftswachstum auskommen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie bitten, die folgende Sendung anzuhören oder aber – für diejenigen unter Ihnen, die das lieber lesen – den Text zu studieren:

➔ Kristin Langen und Leonie Sontheimer (2020): Vom Zauber einer Zahl. Die Erfindung des Wirtschaftswachstums, Deutschlandfunk Kultur, 22.04.2020
»Wie ein delphisches Orakel werden regelmäßig Zahlen des Wirtschaftswachstums bekannt gegeben. Dass Staaten lange ohne die Ermittlung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auskamen – kaum vorstellbar. Dabei ist die Entstehung des BIP nicht lange her.«