Zur Geldpolitik der EZB: Eine aus dem Ruder laufende Inflation und das Zögern der EZB, das zu machen, was in allen Lehrbüchern steht

Ich habe Ihnen heute in der Vorlesung diese Abbildung gezeigt, in der ich die Entwicklung der am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für die Euro-Länder gemessene Inflationsentwicklung sowie die der beiden Zinssätze der EZB (Hauptrefinanzierungssatz und der Zinssatz für die Einlagenfazilität) von Januar 2019 bis Mai 2025 dargestellt habe:

Sie erkennen zum einen die lange Nullzins- bzw. sogar Negativzinsphase, die bis in den Sommer des Jahres 2022 reicht. Darüber und vor allem, was man mit dieser expansiven Geldpolitik („Politik des billigen Geldes“) erreichen wollte, haben wir ausführlich gesprochen.

Schaut man auf die am HVPI für die Euro-Länder gemessene Inflationsentwicklung, dann erkennt man, dass bereits im Verlauf des Jahres 2021 die Preissteigerungsrate (die bis dahin als zu niedrig gemessen an der Zielinflationsrate der EZB wahrgenommen wurde) stark angestiegen ist und dann im Mai/Juni 2021 die 2-Prozent-Marke erreicht hat – um in den darauffolgenden Monaten weit über die Zielinflationsrate nach oben zu schießen.

Hier hätte eigentlich die EZB auf die geldpolitische Bremse treten müssen, also die Leitzinsen anheben, um auf eine „Politik der Verteuerung des Geldes“ umzusteuern. Nach jedem volkswirtschaftlichen Lehrbuch geschieht das mit Blick auf den „normalen“ Wirkungskanal, eine „überhitzte“, also im Boom befindliche und mit steigenden Preisen einhergehende Konjunktur abzubremsen, in dem die Inanspruchnahme von Fremdkapital durch Unternehmen und auch Haushalte (Konsumentenkredite) durch die Verteuerung der Kreditkosten runtergefahren wird, was dann den Preisdruck aus der Wirtschaft nehmen soll.

Nur waren zum einen die Zeiten nicht so, dass wir es mit der Lehrbuch-Konstellation einer überhitzten Wirtschaft zu tun hatten, die meisten Volkswirtschaften und gerade die im Euro-Raum größte Ökonomie, also Deutschland, hingen sprichwörtlich in den Seilen, sie waren mit Rezession, Stagnation oder überschaubar kleinen Wachstumsbeträgen konfrontiert. Alles in allem eigentlich ebenfalls nach dem Lehrbuch eine Lage, bei der man eher mit einer expansiven Geldpolitik einen konjunkturpolitischen Impuls setzen müsste.

Und Sie können der Abbildung entnehmen, dass erst im Sommer 2022, konkret am 21. Juli 2022, nach langen Jahren der Null- und Negativzinspolitik die erste Leitzinsanhebung stattgefunden hat, zu einem Zeitpunkt, als die Inflationsrate im Euro-Raum bereits bei 8,9 Prozent angekommen war. Warum aber hat die EZB so lange gebraucht, um sich zu einer geldpolitischen Straffung durchzuringen? Immerhin war die Preisentwicklung zu dem Zeitpunkt bereits völlig aus dem Ruder gelaufen und es gab eine bedrohliche Verfestigung der Inflationserwartungen in der Wirtschaft und Bevölkerung, also dass die Inflation weiter ansteigen wird.

Die Antwort auf diese Frage lautet: Weil die EZB lange Zeit davon ausging, dass es sich beidem Ausbruch der Inflation nur um ein vorübergehendes Phänomen handeln würde. Vor allem aus drei Gründen hat man sich anfangs zurückgehalten:

➔ Die EZB ging zunächst davon aus, dass der Inflationsanstieg nur vorübergehend sei, verursacht durch sogenannte Basiseffekte (die Preise waren im ersten Pandemie-Jahr 2020 stark gefallen – z. B. die Ölpreise aufgrund des Einbruchs der Produktion und der Mobilität. Der Vergleich mit diesen niedrigen Werten ließ die Inflation 2021 überhöht erscheinen. Wenn es nur diesen zeitversetzten Effekt gegeben hätte, dann wäre das spätestens im Folgejahr wieder „normal“ mit der Preissteigerungsrate.

➔ Ein weiterer Grund für die Preissteigerungen in 2021: Die Lieferkettenprobleme sowie generell knappe Güter nach der Pandemie (z. B. Mikrochips, Rohstoffe) haben die Preise nach oben getrieben.

➔ Das Wiederhochfahren der Industrie nach den Lockdowns im ersten Pandemiejahr hat Nachfrageschübe erzeugt, mit denen dann Preissteigerungen möglich wurden.

Vor diesem Hintergrund hielt die EZB lange Zeit an der Vorstellung fest, dass es sich um rein temporäre Effekte handeln würden, die schnell wieder abklingen und keine Verfestigung der Inflation bewirken werden.

Außerdem wollte die EZB nicht vorschnell reagieren, um die konjunkturelle Entwicklung nicht zu gefährden, denn die war in den meisten Euro-Ländern damals noch durch die Nachwirkungen der globalen Pandemie-Krise gekennzeichnet.

Die EZB konnte oder wollte keinen nachhaltigen, breit angelegten Preisdruck erkennen – dafür sprach auch der Befund, dass gut 50 Prozent des generellen Preisanstiegs auf den Preisanstieg bei Energie zurückgeführt werden konnte.

Dann aber kam ab Ende Februar 2022 der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit verbundenen erheblichen Verwerfungen, insbesondere ein Energiepreis-Schock. Die Inflationserwartungen begannen sich zu verfestigen und es drohte die Gefahr einer „Lohn-Preis-Spirale“ (ein überaus umstrittenes Konzept in der Volkswirtschaftslehre, wenn schon, dann müsste man besser von einer „Preis-Lohn-Spirale“ sprechen).

Anhang: Preisstabilität als Ziel der Geldpolitik der EZB:

Das Mandat der Europäischen Zentralbank (EZB)
Das Mandat der EZB finden Sie normiert in den Artikeln 282 bis 284 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)*. Konkret im Art. 282 Abs. 1 und 2 AEUV. Dort heißt es:
»(1) Die Europäische Zentralbank und die nationalen Zentralbanken bilden das Europäische System der Zentralbanken (ESZB). Die Europäische Zentralbank und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, bilden das Eurosystem und betreiben die Währungspolitik der Union.
(2) Das ESZB wird von den Beschlussorganen der Europäischen Zentralbank geleitet. Sein vorrangiges Ziel ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Unbeschadet dieses Zieles unterstützt es die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung ihrer Ziele beizutragen.«

*) Der „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ hieß bis zum 30.11.2009 „Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“ und hatte eine abweichende Artikelabfolge. Die aktuelle Fassung beruht auf dem Lissabon-Vertrag.