Die – besondere? – Inflation seit 2021. Eine empirische Bilanz

Sie haben bei der Behandlung der Inflation und der Inflationsmessung gelernt, dass es zum einen unterschiedliche Messverfahren gibt – da ist der VPI, der HVPI und der BIP-Deflator, um die wichtigsten wieder in Erinnerung zu messen. Und dass es unterschiedliche Ursachen für Inflation gibt – hier sei an die nachfrage- und die angebotsgetriebene Inflation erinnert.

In einem Beitrag von Susanne Erbe in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ finden Sie (mit Stand Ende 2024) eine gute Zusammenfassung vor dem Hintergrund der Inflationsentwicklung der vergangenen Jahre:

➔ Susanne Erbe (2024): Inflation in Deutschland – eine empirische Bilanz, in: Wirtschaftsdienst, Heft 12/2024, S. 867-870

In diesem Beitrag tauchen alle Grundlagenbegriffe und Grundmodelle aus dem Themenfeld Inflation wieder auf.

Bereits seit 2021 wurden wir mit einem Energiepreisanstieg (Haushaltsenergie und Kraftstoffe) in Deutschland konfrontiert (also schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begonnen hat und bis heute andauert). Durch den Krieg gab es dann einen weiteren kräftigen Preisanstieg: Der Verbraucherpreisindex (VPI) erreichte im Gesamtjahr 2022 mit einer Steigerungsrate von 6,9 % lange Zeit nicht gekannte Höhen. Seit 1995 hatte der VPI nur 2007/2008 und 2011 das 2 %-Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) leicht überschritten.

Zur Inflationsmessung

»Die Messung des „richtigen“ Preisindex ist für die allgemeine Wirtschaftspolitik wie auch für die ökonomischen Entscheidungen aller Wirtschaftssubjekte relevant. Aber vor allem ist die Inflationsrate für die Geldpolitik die entscheidende Zielgröße. Die EZB orientiert sich dabei am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), der in allen EU-Staaten nach dem gleichen Konzept berechnet wird. Wesentlicher Bestimmungsfaktor des Preisindex ist das Wägungsschema, das regulär vom Statistischen Bundesamt berechnet wird, jeweils auf Basis der privaten Konsumausgaben der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) von vor zwei Jahren, ergänzt um alle verfügbaren und relevanten Informationen aus den Erhebungen über die Wirtschaftsrechnungen der privaten Haushalte und anderen Datenquellen … Dieses Wägungsschema kann sich durchaus stark ändern: So hatte der Güterbereich „Wohnung, Wasser, Strom, Gas u. a. Brennstoffe“ 2022 in der HVPI-Berechnung für Deutschland ein Gewicht von 25,2 %, im Folgejahr jedoch nur 16,5 %.«

»Für die deutsche Politik ist der ebenfalls vom Statistischen Bundesamt berechnete VPI wesentlich. Aber auch in Verträgen werden Verbraucherpreisindizes oft verwendet, um langfristig laufende Zahlungen wie Mieten oder Unterhaltszahlungen anzupassen. Das Wägungsschema des VPI wird anders als beim HVPI nicht jährlich ermittelt, sondern jeweils nach fünf Jahren, um eine bessere Vergleichbarkeit der Daten im Zeitablauf zu ermöglichen. Trotz dieser Unterschiede haben sich beide Indizes relativ ähnlich entwickelt.«

»Auffällig ist allerdings die große Differenz zwischen VPI (Steigerungsrate 6,9 %) und HVPI (8,7 %) im Jahr 2022 … Hier wirkte sich vor allem aus, dass im VPI tatsächliche und für selbstgenutzten Wohnraum unterstellte Nettokaltmieten erfasst werden, im HVPI aber nur tatsächliche Mieten.«

»Um der Politik Indikatoren zu liefern, die einen Inflationstrend über längere Zeit ohne stark schwankende Preise betrachten, hat sich das Konzept der Kerninflation durchgesetzt … Dies ist die Inflationsrate ohne die stärker schwankenden Energie- und Nahrungsmittelpreise: Während im Oktober 2022 der Gesamtindex um 8,8 % gegenüber dem Vorjahresmonat angestiegen war, lag die Kerninflationsrate nur bei 5 %. Der VPI überstieg schon seit Anfang 2021 die Kerninflationsrate. Die Energiepreise waren seit Mai 2021 deutlich schneller als der Gesamtindex gestiegen, die Nahrungsmittelpreise erst seit Mai 2022. Dies hängt mit dem weltweiten Anstieg der Großhandelspreise für Energie zusammen und begann 2021 infolge der COVID-19-Pandemie und der wachsenden internationalen Nachfrage. Im September 2023 hat sich dieser Trend umgekehrt. Mittlerweile wächst die Kerninflation schneller als der Gesamtindex, und dies vor allem, weil die Energiepreise zurückgingen, aber Versicherungen und Pauschalreisen teurer wurden.«

»Während der VPI Preisänderungen bei Waren und Dienstleistungen misst, die Verbraucher erwerben, bezieht sich der BIP-Deflator auf Preisänderungen bei Waren und Dienstleistungen, die von Verbrauchern, Unternehmen, dem Staat und Ausländern (aber nicht von Importeuren) erworben werden.«

Ursachen der Inflation

Generell gilt: Inflation ist ein Indikator dafür, dass die Nachfrage das Angebot übersteigt.

Eine angebotsgetriebene Inflation?

Energiepreise: Seit Beginn des Ukrainekrieges 2022 wurden vor allem Energieprodukte teurer, nachdem der Gas- und Ölimport aus Russland immer stärker eingeschränkt wurde. Nahrungsmittel, vor allem Getreide, konnten nur mit großen Problemen aus der Ukraine importiert werden. Die Nachfrage war nicht elastisch genug, um den Preissteigerungen durch Reduktion der Menge vollständig auszuweichen. Und das Angebot konnte nicht rasch genug ausgeweitet werden. Sichtbar wird die starke Konzentration der Preissteigerung auf Energie und Nahrungsmittel an dem Abstand von Kerninflation und VPI.

Importierte Inflation: Das Angebot aus dem Ausland, d. h. die Importe, verteuerte sich – nicht zuletzt aufgrund der Entwicklungen auf dem Devisenmarkt. Auf die importierte Inflation hat der Dollarkurs des Euro einen wesentlichen Einfluss – und dies vor allem bei in Dollar fakturierten Energiegütern: Der Kurs sank im Oktober 2022 auf den historisch niedrigen Wert von 0,98 US-$/Euro und machte damit importierte Güter in Euro zusätzlich teurer.

Wettbewerb: Ein funktionierender Wettbewerb ist die Voraussetzung für niedrige Angebotspreise, fehlt dieser kommt es zu inflationären Verhältnissen. Dies gilt für die Abhängigkeit von Importen, die auf wenige Länder konzentriert sind. Aber auch für inländische Güter ist die Wettbewerbsintensität bedeutend.

Eine nachfragegetriebene Inflation?

Staatsnachfrage: Zumindest 2020, als die Inflationsrate mit 0,5 % sehr niedrig war, hat der Staat dafür gesorgt, dass die Nachfrage nicht ins Bodenlose sank. Nachdem der Staatshaushalt nach der Finanzkrise ab 2012 in jedem Jahr mit einem Überschuss abschloss, kam es 2020 zu einem Defizit von 4,3 % des BIP, das bis 2023 auf 2,5 % sank.

Private Nachfrage: Der private Konsum erreichte gleichzeitig nie gekannte Tiefpunkte, die Sparquote der privaten Haushalte stieg auf 16,5 % (1. Halbjahr 2020) und 17 % (1. Halbjahr 2021). Erst ab dem 2. Halbjahr 2021 wurden die Quoten der Vor-Corona-Jahre wieder erreicht.

Weitere mögliche Inflationsursachen: Monetäre Ursachen, Zweitrundeneffekte, Regulierungen?

Geldpolitik: Das Wachstum der Geldmenge war lange Zeit eine Säule der deutschen Geldpolitik, basierend auf der Quantitätsgleichung, welche Geldmenge, Geldumlaufsgeschwindigkeit, Inlandsprodukt und Preisentwicklung in Beziehung setzt. Tatsächlich ist 2020 die Geldmenge M3 um knapp 12 % gestiegen, nachdem sie zuvor zehn Jahre im Durchschnitt mit 3,5 % p. a. gewachsen war. Sie kehrte 2023 rasch auf diesen Wert zurück. Die Deutsche Bundesbank hat 2023 einen Überblick über empirische Studien zum Zusammenhang zwischen Geldmenge und Inflation veröffentlicht und kommt zu dem Ergebnis, dass kein Zusammenhang zwischen Geldmengenentwicklung und Inflation besteht.

Zweitrundeneffekte: Seit 2021 nimmt der Beitrag der Lohnstückkosten am BIP-Deflator zu. 2023 ist er dominant, was darauf hinweist, dass sich allmählich Zweitrundeneffekte aufbauen.

Regulierungen und administrative Preisanpassungen: Weiterhin können verschiedene politische Maßnahmen preistreibende Wirkungen entfalten, wie Zölle und Mehrwertsteuererhöhungen, die Bepreisung von Treibhausgasemissionen und die Aufhebung von Subventionen. Fiskalische Maßnahmen haben 2020 zur Dämpfung und 2022 zur Anhebung des BIP-Deflators beigetragen.

Klassischerweise wird Inflation als ein nachfragegetriebener Effekt betrachtet. Die Situation 2022 spricht aber sehr für eine angebotsgetriebene Inflation. Auch die Deutsche Bundesbank sieht in einer Studie in den angebotsseitigen Einflüssen eine größere Bedeutung

Susanne Erbe kommt zu folgendem Fazit:

»Die zur Inflationsmessung herangezogenen Verbraucherpreisindices weisen relevante konzeptionelle Unterschiede auf, die dem Wägungsschema geschuldet sind. An der Kerninflationsrate lässt sich zeigen, dass vor allem Energie- und Nahrungsmittel die Haupttreiber der Inflation waren. Der BIP-Deflator offenbart, dass 2021 bis 2023 die Stückgewinne dominante Faktoren waren, ab 2022 überwiegt der Anteil der Lohnstückkosten. Die EZB hat die hohen Inflationsraten Ende 2021 zunächst als Angebotsschock interpretiert, dem sie nichts entgegensetzen konnte, ab Juli 2022 aber schnell reagiert. Zur Eindämmung der Inflation haben vor allem die Preisbremsen und Steuersenkungen beigetragen. Die restriktive EZB-Politik hatte zuletzt die Inflation dämpfen können, aber auch für einen Rückgang der Wachstumsrate gesorgt. Nachfrageseitig ist aktuell trotz sinkender Zinssätze nicht mit einem Inflationsschub zu rechnen, da die Sparquote der privaten Haushalte mit 11,1 % im ersten Halbjahr 2024 wieder einen Prozentpunkt über dem Vorjahreswert liegt. Langfristig ist allerdings zu bedenken, dass eine Einhegung der internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen – wie es durch die vom künftigen US-Präsidenten Trump angekündigten Zollerhöhungen zu erwarten ist – die Angebotspreise steigen lassen wird. Auch von einer Anhebung der Preise für CO2-Zertifikate geht ein zusätzliches Inflationsrisiko aus.«