Die Typologie der Marktformen und immer wieder die „Big Four“ – nicht nur im Lebensmitteleinzelhandel

Wir haben uns in der Vorlesung mit dem so überaus wichtigen Thema der Marktformen beschäftigt. Die in Ihren Unterlagen vorhandene Übersichtsdarstellung mit der 9- Felder-Matrix sollten Sie sich wirklich gut einprägen. Die einzelnen Marktformen spielen auch in vielen anderen Bereichen Ihres Studiums eine wichtige Rolle. Auch hier wurden wir erneut konfrontiert mit der Erkenntnis, dass das Ideal- und Referenzmodell der Lehrbuch-Ökonomie, also das Polypol, so gut wie nie gegeben ist. Die meisten Unternehmen bewegen sich in der Marktform des Oligopols, bzw. ganz korrekt formuliert im Angebotsoligopol. In der bisherigen Veranstaltung wurde von mir beispielhaft auf die Bedeutung und die Marktmacht der „Big Four“ im Lebensmitteleinzelhandel hingewiesen.

Die in der Abbildung dargestellten Marktanteile beziehen sich auf das Jahr vor Beginn der Corona-Pandemie. Hat sich seitdem etwas verändert? Offensichtlich nicht, wie Sie der folgenden Abbildung mit den Marktanteilen für das Jahr 2023 entnehmen können. Die Konzentration der Umsatzanteile auf die Big Four hat sogar noch weiter zugenommen, mittlerweile entfallen 76 Prozent der Umsätze auf die vier großen Anbieter:

Quelle der Abbildung: Reiner Mihr (2024): Top 30 Ranking im deutschen LEH 2023, in: Lebensmittelpraxis Online, 15.03.2024

➔ Ich hatte in der Vorlesung darauf hingewiesen, dass die Big Four in der Typologie der Marktformen ein Lehrbuchbeispiel für ein enges Angebotsoligopol sind, also nur sehr wenige Unternehmen stehen sehr vielen marktschwachen Nachfragern gegenüber. Man sollte aber berücksichtigen, dass diese Unternehmen mit Blick auf die Beziehungen zu ihren Lieferanten (wenn man von wenigen marktstarken Marken-Herstellern absieht) in der Marktform des Monopsons (Nachfragemonopol) unterwegs sind, wo ein marktstarker Nachfrager vielen kleinen marktschwachen Anbietern gegenübersteht. Wenn ein Lieferant einen großen Teil seines Absatzes mit einem der großen Vier abwickelt, dann ist er der Nachfragemacht fast bedingungslos ausgeliefert, was auch nicht selten ausgenutzt wird.

Die „Big Four“ gibt es auch auf einem schweinischen Markt

Apropos Lebensmittel. Die müssen, bevor die verkauft werden können, hergestellt werden. Werfen wir dafür einen Blick auf die besondere Branche der Schlachthöfe. Auch hier finden wir erneut eine „Big Four“-Struktur – hier am Beispiel der Verteilung der Marktanteile bei den Schweineschlachtbetrieben im Jahr 2019:

Auch hier wieder die Frage, ob es aktuellere Daten gibt und ob sich das vielleicht verändert hat in der Zwischenzeit. Nein, hat es nicht, die Grundstruktur ist geblieben. Dazu habe ich Ihnen die aktuellsten Daten, die man bekommen kann, in der folgenden Abbildung dargestellt:

Quelle der Daten: ISN – Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands

Das war übrigens nicht immer so – und das es so gekommen ist, hat auch was zu tun mit den „Big Four“ im Lebensmitteleinzelhandel.

»Bis in das Jahr 2000 spielte die deutsche Fleischindustrie im Prinzip keine Rolle auf dem europäischen Markt. Seit dem Jahr 2000 ist die Branche dann umsatzmäßig explodiert. Es geht um eine Verdoppelung des Umsatzes von knapp 20 auf 40 Milliarden Euro innerhalb der letzten 10 bis 15 Jahre. Wie konnte das passieren? Was hatte sich verändert? Ganz einfach: man verwandelte die Branche in eine – betriebswirtschaftlich und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gesprochen – „Effizienzmaschine“, vor allem dadurch, dass man Arbeitskräfte aus Osteuropa nach Deutschland geholt hat, die dann im Rahmen von Werkverträgen zu billigsten Löhnen ausgebeutet werden konnten.«

Diese Ausführungen können Sie einem Beitrag von mir entnehmen, der am 15. November 2014 (!) in meinem Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ veröffentlicht wurde: Billig, billiger, Deutschland. Wie sich die Umsätze in der deutschen Fleischindustrie verdoppeln konnten und warum der Mindestlohn ein fragiler Fortschritt ist. Das, was bereits damals als fundamentaler Expansionsprozess beschrieben wurde, hat sich – betriebswirtschaftlich durchaus konsequent – verbunden mit einem gewaltigen Konzentrationsprozess in der Branche. Reihenweise sind in den vergangenen zwanzig Jahren kleine, mittelständische und ja, auch die gab es früher zahlreich: kommunale Schlachthäuser überschaubarer Größenordnung vom Markt verschwunden, sie wurden Opfer der Effizienzmaschinen (vgl. dazu beispielsweise die Studie von Judith Beile, Stefan Klein und Klaus Maack: Zukunft der Fleischwirtschaft, 2017). Das Ergebnis dieser Prozesse sieht dann so aus – und dem einen oder anderen wird auffallen, dass es eine offensichtliche Parallele zu einem anderen Konzentrationsprozess gibt, den im Lebensmitteleinzelhandel, wo wir heute die Situation haben, dass die Big Four (Edeka, Rewe, die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland sowie Aldi (mit Aldi Nord und Süd) mehr als 70 Prozent des Marktes beherrschen.

Auch in ganz anderen Branchen trifft man auf „Big Four“

Am 1. Januar 2024 wurden 3.028 Wirtschaftsprüfungsgesellschaften in Deutschland gezählt – übrigens gibt es derzeit in ganz Deutschland (nur) knapp 15.000 Wirtschaftsprüfer. Auf den ersten Blick eine ziemlich große Zahl an Unternehmen in diesem Bereich. Aber auch in der Wirtschaftsprüfung sehen wir eine „Big Four“-Struktur. Der Markt wird immer noch beherrscht von den vier größten WP-Gesellschaften: Deloitte, EY, KPMG und PwC.

Die 25 führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften – die zusammen mehr als 60 Prozent des deutschen Marktvolumens abdecken – haben im Jahr 2020 bei Umsatz erstmals die 10-Milliarden-Euro-Marke (10,2 Mrd. Euro) überschritten. Aber: Auf die Big Four entfallen allein 8,2 Mrd. Euro von den 10,2 Mrd. Euro. 
1. PricewaterhouseCoopers (PwC): 2,41 Mrd. Euro Umsatz in Deutschland
2. Ernst & Young (EY): 2,16 Mrd. Euro
3. KPMG: 1,93 Mrd. Euro
4. Deloitte: 1,69 Mrd. Euro
Alle weiteren WP-Gesellschaften folgen mit deutlichem Abstand auf die Big Four. So lag die WP-Gesellschaft auf dem 5. Platz des Rankings im Jahr 2020 bei einem Umsatz von 284,7 Millionen Euro – und hatte damit einen deutlichen Abstand zu den Umsatzwerten der großen Vier. (Quelle: Wirtschaftsprüfung: Marktdynamik sorgt für zahlreiche Positionswechsel im Branchen-Ranking, 05.07.2021).

In dem Beitrag Die Big Four der Wirtschaftsprüfung findet man die folgenden Hintergrundinformationen zu dieser Entwicklung:

»Der Begriff Big Four lässt sich auf die Ende der 1970er Jahre entstandene Bezeichnung Big Eight zurückführen. Zu dieser Zeit waren es noch acht WP-Gesellschaften, die weltweit den Markt für Prüfungsleistungen beherrschten. Im Jahr 1989 schlossen sich dann Deloitte Haskins & Sells und Touche Ross zu Deloitte, sowie Ernst & Whinney und Arthur Young zu Ernst & Young zusammen, wodurch die Big Six entstanden. Aus der Fusion von Coopers & Lybrand und Price Waterhouse 1998 gingen die Big Five und aus der partiellen Auflösung von Arthur Andersen bzw. der Fusion derselben mit Ernst & Young nach dem Enron Skandal im Jahr 2002 schließlich die Big Four hervor. In Deutschland dominieren die Big Four mit einem Marktanteil von rund 70 Prozent in den Börsensegmenten DAX, MDAX, SDAX und TecDAX den Markt für Prüfungsleistungen bei börsennotierten Unternehmen. Noch deutlicher wird die Anbieterkonzentration bei der Mandatsvergabe der DAX-Konzerne. Hierbei nehmen KPMG und PwC zusammen mit einem Anteil von ca. 90 Prozent derzeit eine marktbeherrschende Stellung ein. Auf dem Sektor der börsennotierten Versicherungsunternehmen und Banken bewegt sich der Markt für Prüfungsleistungen sogar in Richtung eines Quasi-Monopols von KPMG … Die Gründe für die Marktkonzentration sind vielfältig. Neben den … Fusionen in der WP-Branche sowie größenbedingter Kostenvorteile auf Seiten der großen WP-Gesellschaften liegt dies vor allem auch an der Prüfungsnachfrage. Speziell börsennotierte, global tätige Gesellschaften beauftragen Wirtschaftsprüfer, die international vertreten sind und über umfassende (Human-)Ressourcen verfügen. Weiterhin versprechen sich viele Unternehmen von einem Testat einer Big Four-Gesellschaft eine höhere Glaubwürdigkeit der veröffentlichten Informationen am Kapitalmarkt.«

Was für die Augen und Ohren

Bitte schauen Sie sich zu Abrundung des Themas Big Four in der Wirtschaftsprüfung den folgenden aktuellen Beitrag an:

➔ Frontal 21: Die Big Four. So groß ist die Macht der Wirtschaftsprüfer (27.03.2024)
Die großen Wirtschaftsskandale unserer Zeit haben einen gemeinsamen Nenner: die Big Four. Gemeint sind damit die vier größten Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG, Deloitte, EY und PwC. Ihre Macht ist groß, ihre Unabhängigkeit umstritten. Die Bilanzen von über 90 Prozent der deutschen börsennotierten Unternehmen werden von einer der Big Four geprüft. Nicht immer geht das gut. EY hatte Lehman Brothers jahrelang eine saubere Buchführung attestiert, bis die Bank 2008 pleite ging wegen umstrittener Geldgeschäfte – der Beginn einer globalen Finanzkrise. Auch bei Wirecard hatten die Prüfer lange Zeit nichts zu beanstanden. Was folgte, war einer der größten Wirtschaftsskandale der deutschen Geschichte. Trotzdem: regelmäßig holen sich Regierungen und Ministerien die Expertise der Wirtschaftsprüfer ins Haus. Im September 2023 wurde PwC vom Wirtschaftsministerium sogar zur “Prüfbehörde” ernannt. Die Macht der Wirtschaftsprüfer ist groß. Zu groß, sagen manche. Doch die Versuche, die Big Four zu regulieren, sind mehr als zaghaft. Sind die Big Four „too big to fail“?

Und hier noch für die Interessierten an dem Thema Wirtschaftsprüfung und welche Auswirkungen die beschriebene „Big Four“-Struktur haben kann, der Hinweis auf eine interessante Fernseh-Doku, die bereits 2019 ausgestrahlt wurde, die aber weiterhin sehenswert ist:

➔ WDR: Die Berater der Reichen und Mächtigen – Die Macht der „Big Four“ (2019): »Vier Firmen. Fast eine Million Mitarbeiter weltweit. Aktiv in mehr als 180 Ländern. Ein Umsatz von fast 130 Milliarden Euro pro Jahr. Sie beraten Unternehmen und Regierungen und haben Herrschaftswissen: die vier weltweit größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Schätzungen gehen von bis zu einer Billion europaweit entgangenen Steuern aus. Bei den Steuersparmodellen großer Konzerne spielen die Berater eine Schlüsselrolle, meint die britische Parlamentarierin Margaret Hodge. Sie hat zahlreiche Untersuchungsausschüsse geleitet, in denen die Verwicklung der Big Four in Steuerskandale analysiert wurde: „Hinter dieser massiven Steuervermeidungsindustrie steckt ein System. Wenn Sie es verstehen wollen, müssen Sie die Rolle der Beraterfirmen unter die Lupe nehmen. Allen voran die Big Four“. In einer umfangreichen Recherche wollen Reporter von WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung herausfinden: Wie mächtig sind diese Beraterfirmen wirklich? Wie arbeiten sie genau? Und welche Rolle spielen sie im schier endlosen Kampf gegen Steuerflucht?«