Wenn die Realität das ausgedachte Beispiel überholt. Zugleich einige höchst aktuelle Anmerkungen diesseits und jenseits der Meerenge von Hormus

Versuchen Sie sich zu erinnern an die Einführungsveranstaltung zu meiner VWL-Vorlesung. Da habe ich erläutert, warum man zu dem Befund kommen sollte, dass die Volkswirtschaftslehre eine der Sozialwissenschaften ist. Zugleich habe ich beispielhaft aufzuzeigen versucht, warum man über ein breites Hintergrundwissen (das sich aus anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie der Politikwissenschaft, der Soziologie usw. speisen sollte) verfügen muss, um bestimmte Entwicklungen hinsichtlich ihrer – möglichen – Auswirkungen auf primär ökonomische Entscheidungen überhaupt einordnen zu können.

Ich hatte das am Fallbeispiel Rohölpreise illustriert. Dabei nicht nur am konkreten Beispiel dessen, was 2014 passiert ist, als der bzw. die Rohölpreise sich innerhalb weniger Woche mehr als halbiert haben. Ich hatte Ihnen dann mit Blick auf die Gegenwart eine Landkarte vom persischen Golf gezeigt und dabei auf die strategische Bedeutung der Meerenge von Hormus hingewiesen, denn ein Drittel der weltweiten Rohölexporte müssen hier durch. Ich hatte dann versucht, an einem konstruierten Beispiel – ein US-amerikanisches Kanonenboot wird von iranischen Revolutionswächtern aufgebracht und unter dem Vorwurf, die hätten iranische Hoheitsgewässer verletzt, in einen iranischen Hafen geschleppt – die schwierigen Abwägungsfragen zu erläutern, denen sich ein Trader an der Börse bei Kenntnisnahme dieses Vorfalls ausgesetzt sieht. Wird das ein punktuell begrenztes Ereignis bleiben, das nach einigen Tagen der Verhandlungen dann wieder verschwindet – oder aber kann das der Beginn einer großen Eskalationsspirale sein, in der es dann auch zu einem militärischen Großkonflikt in dieser sowieso schon aufgeheizten Region kommen könnte, mit unabsehbaren auch ökonomischen Folgen, denn der Iran ist in der Lage, durch eine Verminung der Meerenge von Hormus dieses so bedeutsame Schlagader der Weltwirtschaft in kürzester Zeit komplett lahmzulegen, was natürlich schwere Erschütterungen in der Weltwirtschaft auslösen würde mit ihren Folgen für die Ölpreise, aber auch für die Aktienkurse, die Währungskurse usw.?

Und was müssen wir nun zur Kenntnis nehmen? Ich zitiere diese Meldung, die uns am späten Vormittag des 13. April 2024 erreicht hat:

»Der Iran hat in der Straße von Hormus das Container-Schiff MSC Aries mit portugiesischer Flagge besetzt. Dies berichtete die Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf einen Nahost-Sicherheitsbeamten. Der Agentur wurde von eigenen Angaben zufolge von dem Beamten ein Video gezeigt, das von der Besatzung des Schiffes geschickt wurde. Demnach hielt ein iranischer Helikopter über dem Schiff, iranische Soldaten seilten sich auf das Schiff ab und nahmen es ein. Es wird vermutet, dass der Helikopter der Iranischen Revolutionsgarde gehört.
AP berichtete außerdem, dass die MSC Aries zu der Flotte des Konzerns Zodiac Maritime gehört, die wiederum Teil der Zodiac Group ist. Chef der Zodiac Group ist der israelische Milliarder Eyel Ofer. Schon in der Vergangenheit hatte der Iran mehrmals Schiffe eingenommen, die israelischen Konzernen oder Geschäftsleuten gehören.«
(Quelle: Frankfurter Rundschau Online, 13.04.2024, 11:35 Uhr)

Mittlerweile haben sich die Ereignisse überschlagen (oder doch nicht?)

Die Eskalationsspirale im Nahen Osten scheint sich darüber hinaus nun richtig nach oben zu drehen. Sie haben alle mitbekommen, dass der Iran versucht hat, wohl mehr als 300 Drohnen und Raketen auf Israel abzufeuern, die meisten konnten allerdings unschädlich gemacht werden, bevor sie ihre Ziele erreicht haben und ihre zerstörerischen Wirkungen entfalten konnten.

Aber jetzt stellt sich aus einer engeren ökonomischen Sicht noch dringlicher die Frage, ob und welche Auswirkungen das auf wichtige Parameter wie Rohölpreise, Aktienkurse usw. haben wird. Auf der einen Seite ist diese Angriffswelle des Iran eine neue Stufe der Eskalation – zugleich aber wird die Antwort auf die möglichen Folgen für die Wirtschaft durchaus davon abhängen (müssen), ob es gelingen wird, die Eskalationsspirale an diesem Punkt zumindest vorläufig zu stoppen, in dem es keine militärische Ausweitung im Sinne eines direkten Krieges zwischen Israel und dem Iran gibt, sondern man das sozusagen „einfriert“.

Ich zitiere zu den aktuelle Überlegungen bzw. Spekulationen über die möglichen Folgen aus einem Artikel, der am 15.04.2024 im Handelsblatt veröffentlicht wurde – und Sie werden sehen, wie da die von mir noch als hypothetisches Szenario angesprochene Sperrung der Straße von Hormus auch wieder auftaucht, nur diesmal als durchaus mögliche reale Option:

»Mit dem Angriff Irans auf Israel haben sich die Vorzeichen für Anleger über das Wochenende auf einen Schlag grundlegend verändert. Ein halbes Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel stehen die Finanzmärkte plötzlich wieder im Bann der Geopolitik.

Im Oktober 2023 fiel der Schock über die Attacke der Hamas an den Börsen heftig, aber vergleichsweise kurz aus. Auch diesmal müssen Anleger auf starke Ausschläge gefasst sein. Nur spricht viel dafür, dass die jetzige Eskalation tiefere Spuren an den globalen Märkten hinterlassen wird.

Denn es droht, was Marktteilnehmer als eines der größten, wenn nicht das größte Risiko für die seit Monaten laufende Rally betrachten: ein Flächenbrand im Nahen Osten. Viel wird von der Reaktion Israels auf die erste Attacke dieser Art abhängen. Klar ist aber schon jetzt: Ob Ölpreise, Anleihen oder Gold, Aktien oder Kryptowährungen – folgenreich wird die Eskalation in jedem Fall sein.

Das gilt ganz besonders für die Ölmärkte. Nach den Hamas-Anschlägen am 7. Oktober 2023 sprang der Preis für die Nordseesorte Brent in der Spitze um elf Prozent. Nach wenigen Wochen sanken die Preise zwar. Doch seit einiger Zeit geht es wieder deutlich aufwärts: seit dem Jahreswechsel um etwa 20 Prozent, auf 90 Dollar pro Barrel (159-Liter-Fass) für die Nordseesorte Brent.

Beobachtern fiel am Sonntag auf, dass die Golfstaaten umgehend zur Mäßigung aufriefen. Darunter sind einige der wichtigsten Erdölförderländer der Welt. Sie sorgen sich unter anderem, dass der Iran die Straße von Hormus sperren könnte, eine der wichtigsten Lieferrouten. Ein Vorfall dort sorgt für zusätzliche Unruhe: Iranische Revolutionsgarden setzten am Samstag einen Frachter fest, der in Verbindung mit Geschäften eines israelischen Unternehmers steht. Das berichtete die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf iranische Quellen.

Der Vorfall schürt Sorgen, der Iran könnte Ernst machen und die Straße von Hormus für den Schiffsverkehr sperren. Diese Drohung hatte vorige Woche der Marinechef der Revolutionsgarden, Aliresa Tangsiri, ausgesprochen. In diesem Worst-Case-Szenario, warnt die Weltbank, wären Ölpreise von 140 bis 157 Dollar pro Fass denkbar. Steigende Ölpreise – womöglich für längere Zeit – sind eine Last für die Weltwirtschaft. Wachstumsraten von 2,9 Prozent in diesem und 3,0 Prozent im nächsten Jahr, wie sie der Industrieländerklub OECD prognostiziert, wären Makulatur. Die bislang robuste Weltwirtschaft ist aber ein Treiber der Aktienmärkte.

Das gilt insbesondere für den deutschen Leitindex Dax. Viele Unternehmen im Dax und ihre Aktionäre profitieren davon, dass die Konjunktur global besser läuft als hierzulande. Der Dax war am Freitag mit 17.930 Punkten aus dem Handel gegangen, 3,6 Prozent entfernt von seinem Allzeithoch bei 18.576 Punkten.

Steigende Ölpreise belasten vor allem konjunktursensible Branchen wie den Chemie- und Autosektor. Dagegen dürften Aktien von Rüstungsunternehmen angesichts der geopolitischen Zuspitzung einmal mehr gefragt sein. Rheinmetall und Zulieferer wie Hensoldt und Renk verzeichneten nach der Terrorattacke der Hamas in einem verunsicherten Markt Zugewinne.

Kapitalmarktexperte Mohamed El-Erian, der unter anderem die Allianz berät, sieht eine neue Phase erreicht. Noch sei nicht klar, wie stark die Lage in der Region eskaliere. „Doch die Risikoprämien für Investoren werden in jedem Fall steigen“, sagte er am Sonntag im Gespräch mit dem Handelsblatt. El-Erian erwartet am Montag eine klassische Flucht in sichere Anlagen. Aktienkurse würden sinken. „Öl und Gold werden steigen“, so El-Erian, „US-Staatsanleihen ebenso.“

Hier taugt der Hamas-Angriff vor sechs Monaten ebenfalls als Blaupause: US-Staatsanleihen waren gefragt. Eine stärkere Nachfrage lässt die Kurse von Anleihen steigen. Spiegelbildlich sinken die Renditen. Zu Börsenschluss am Freitag notierte die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen bei 4,52 Prozent. Seit Jahresanfang ist sie um rund einen halben Prozentpunkt gestiegen. Auslöser ist, dass sich die Zinswende in den USA nach Auffassung von Analysten um einige Monate bis um ein halbes Jahr verzögern wird. Der Grund: Die Inflation steigt wieder.

Die anziehende Inflation in den USA hat im Frühjahr mehr und mehr das Geschehen an den Finanzmärkten dominiert. Die einschlägige Fondsmanagerumfrage der Bank of America zeigt: Unter Fondsmanagern hat die Inflation die Geopolitik sogar als Hauptrisiko abgelöst. Dieses Umdenken hat sich als trügerisch entpuppt, was die Reaktionen an den Märkten verstärken dürfte.

Die Eskalation im Nahen Osten dürfte nun einer weiteren Anlageklasse zugutekommen, die auch schon von der Inflationsangst profitiert hat: Gold. Das Edelmetall eilt seit Monaten von Rekord zu Rekord. Zu erwarten ist, dass Anleger in der jetzigen Phase umso mehr auf Gold als sicheren Hafen neben Staatsanleihen setzen.

Dagegen warfen Anleger Kryptowährungen aus ihren Depots. Die Kryptomärkte reagierten umgehend drastisch auf Irans Angriff auf Israel. Anders als Aktien und Anleihen können Anleger Kryptoassets auf speziellen Handelsplätzen auch an Wochenenden kaufen und verkaufen.

(Quelle: Stefan Reccius und Astrid Dörner: Worauf Anleger jetzt gefasst sein müssen, in: Handelsblatt, 15.04.2024)

Und wenn man heute Vormittag ein Blick in die Wirtschaftspresse wirft, dann wird man mit solchen Meldungen über die aktuellen Entwicklungen konfrontiert:

»Der Dax startet am Montagmorgen einen Erholungsversuch – trotz Kriegsangst. Anleger setzen darauf, dass Israel nach dem Angriff Irans auf einen Gegenschlag verzichtet. Der Ölpreis steigt weiter. Rüstungswerte legen zu.
Der Dax hat am Montag einen Erholungskurs eingeschlagen und die Hürde von 18.000 Punkten wieder überwunden. Allerdings steht dieser Stabilisierungsversuch angesichts der Eskalation im Nahost-Konflikt auf tönernen Füßen … Der direkte Angriff des Iran auf Israel am Samstag wurde an den Börsen weitgehend ignoriert. Die Anleger hätten sich bereits vor dem Wochenende auf einen Militärschlag eingestellt, schrieb Portfoliomanager Thomas Altmann von QC Partners. Es herrsche sogar eine gewisse Erleichterung darüber, dass der Angriff nicht noch heftiger ausgefallen sei. Allerdings ist noch unklar, wie Israels Staatsführung reagieren wird. Medienberichten zufolge ist dies noch nicht entschieden. Die Spannungen sorgten für weiteren Aufwind unter den Aktien von Rüstungsunternehmen.«

Und der Ölpreis?

»Die Ölpreise sind am Freitag auf den höchsten Stand seit Oktober 2023 gestiegen. Gestützt wurden die Preise durch die Eskalation im Nahen Osten. Zuletzt kostete ein Barrel (159 Liter) der Nordseesorte Brent zur Lieferung im Juni rund 92 US-Dollar. Zu Jahresbeginn hatte der Brent-Preis noch unter 75 Dollar gelegen. Der Preis für ein Fass der US-Sorte West Texas Intermediate (WTI) zur Lieferung im Mai stieg um 1,99 Dollar auf 87,00 Dollar. Im Fokus der Anleger stand allerdings die Frage, wie die Ölpreise nach der Wiederaufnahme des Handels am Montag reagieren würden. Sie waren in der vergangenen Woche bereits wegen Sorgen über ein Vorgehen des Iran gestiegen: Der Preis für die Sorte Brent legte am Freitag auf 92,18 Dollar je Barrel zu, den höchsten Stand seit Oktober.«

(Quelle: Eskalation zwischen Iran und Israel beherrscht die Börse, 15.04.2024; 10:27 Uhr)