Angebotsinduzierte Nachfrageausweitung jenseits der gesundheitsökonomischen Theorie: Man findet die beispielsweise bei Zahnspangen

Immer wieder mal ein Blick zurück auf Themen, die wir behandelt haben. Beispielsweise auf diese „angebotsinduzierte Nachfrage“, die als ein besonderes Phänomen (und Herausforderung) im Gesundheitswesen behandelt wurde. Denn die Leistungserbringer, vor allem die Ärzte, haben im Gesundheitswesen aufgrund ihrer Diagnose- und Therapieautonomie die Möglichkeit, „in die Menge“ zu gehen, also mehr Leistungen auszulösen, als eigentlich notwendig wären. Das ist natürlich dann doppelt problematisch, wenn die Leistungserbringer ein monetäres Interesse haben an mehr abzurechnenden Leistungen, da sie dann unmittelbar davon profitieren (es sei denn, die Seite der Kostenträger reguliert dagegen, beispielsweise über eine Absenkung der konkreten Vergütung für die Mehrleistungen oder gar alle Leistungen, um ein gegebenes Budget nicht aus dem Ruder laufen zu lassen) und zugleich ist das möglicherweise schlecht für die Patienten, die mit zu viel Diagnostik und Therapie konfrontiert sein können.

Alles nur Theorie aus den Tiefen der Gesundheitsökonomie? Nein, wieder einmal wird aktuell über ein Beispiel diskutiert, dass sprichwörtlich jeder vor Augen haben kann. Gemeint sind Zahnspangen. Und Kieferorthopäden.

Deutschland ist im internationalen Vergleich Spitzenreiter. Was sich erst einmal positiv anhört. Aber man muss genauer hinschauen: »Wer internationale Vergleiche betrachtet, gewinnt schnell den Eindruck, deutsche Kinder haben die schiefsten Zähne der Welt. Während im Nachbarland Dänemark etwa 29 Prozent der Kinder eine Zahnspange bekommen, in Schweden 30 Prozent und in Norwegen 35 Prozent, bekommen hierzulande schätzungsweise 66 Prozent eine Spange verpasst.« Das sind erhebliche Unterschiede. Bereits vor Jahren stellte der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen fest: „Die Behandlung von Jugendlichen mit kieferorthopädischen Maßnahmen überschreitet mit über 60 Prozent alle internationalen Normwerte.“ Das kann man diesem Artikel entnehmen: Das glänzende Geschäft mit Zahnspangen. Und dazu gibt es einen Fernsehbericht, den ich Ihnen empfohlen habe:

➔ Panorama: Zahnspangen: Wie Kieferorthopäden Kasse machen (16.05.2024)
»In Deutschland bekommen zwei von drei Kindern eine Zahnspange. Eine Recherche von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung legt die Gewinnmöglichkeiten in der Branche offen. Kritik gibt es auch von Kieferorthopäden.«

Überhaupt nicht problematisch wird das auf der Seite der Verbände der Leistungserbringer gesehen: Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) und auch die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) können an den Anteilswerten daran offenbar nichts Schlechtes erkennen: »2022 stellten die beiden Berufsverbände die „Sechste Mundgesundheitsstudie“ vor, die zu einem erstaunlichen Ergebnis kommt. Demnach könne „aus medizinischen Gründen eine kieferorthopädische Behandlung (…) bei insgesamt 97,5 Prozent“ der Kinder grundsätzlich angezeigt sein. Will heißen: Fast jedes Kind könnte eine Zahnspange benötigen.«

Die Kieferorthopäden freuen sich. Also viele, aber nicht alle. Da gibt es auch „schwarze Schafe“. Beispielsweise den hier:

»Einer von denen, die seit Jahren offen über das Problem sprechen, ist Henning Madsen aus Mannheim. Madsen kritisiert nicht nur die außerordentlich hohe Zahl der Zahnspangen, die in Deutschland verschrieben werden. Problematisch sei auch die lange Behandlungszeit. Rund 42 Monate dauert eine Behandlung hierzulande im Durchschnitt, teilt die KZBV auf Anfrage mit. Andere Länder, wie Österreich, schaffen das in deutlich kürzerer Zeit.«

Und jetzt kommt wieder die Ökonomie ins Spiel, also das Geld.

»Die lange Behandlungsdauer könnte auch an der Art und Weise liegen, wie hierzulande abgerechnet wird, vermuten Kritiker. So erhalten Kieferorthopäden in Österreich seit 2015 eine Pauschale, zur Zeit beträgt sie rund 4.400 Euro. Seit der Umstellung ist die durchschnittliche Behandlungszeit in Österreich deutlich gesunken, auf 26 Monate.«

Und bei uns? »Deutsche Kieferorthopäden können auch über sehr lange Zeiträume einzelne Behandlungsschritte abrechnen. Die lange Behandlungszeit in Deutschland habe weniger medizinische Ursachen, sondern liege „eher an den Wünschen der Ärzte nach einem hohen Einkommen“, vermutet deshalb Kieferorthopäde Madsen.«

Wenn wir schon beim Geld sind: »Grundsätzlich bezahlen die Gesetzlichen Krankenkassen allen Kindern bis zum 18. Lebensjahr eine Zahnspange – sofern bestimmte Fehlstellungen der Zähne diagnostiziert werden. Nach Auskunft der KZBV haben die Kassen im vergangenen Jahr im Schnitt 3.126 Euro für eine Zahnspange bezahlt.«

Also selbst zahlen müssen die Kinder bzw. deren Eltern nichts, das überhaupt die Krankenkasse. Das gilt aber nur grundsätzlich, jetzt werden Sie konkret konfrontiert mit der „asymmetrischen Information“ zwischen dem Zahnarzt und seinen Patienten (deshalb sollte man ja auch als Patient hoffen dürfen, dass der Leistungserbringer im Interesse des Patienten agiert, also das macht, was medizinisch notwendig ist, nicht aber das, was … Na ja, Geld kann ganz schön anziehend sein:

»Doch sitzen die Eltern erst mal in der Praxis, argumentieren viele Kieferorthopäden, es gebe Brackets und Bögen, die von der Kasse nicht bezahlt werden, mit denen die Behandlungszeit verkürzt werde oder weniger schmerzhaft sei.«

Was übrigens wohl nicht von der Studienlage gedeckt ist: »Eine Meta-Analyse kam 2021 zu dem Ergebnis: „Die übergroße Mehrheit“ der Studien habe „keinen einzigen signifikanten Unterschied zwischen den drei Typen von Brackets gefunden“.«

Das hat handfeste Folgen, denn aufgrund der asymmetrischen Informationssituation werden die meisten Patienten bzw. in diesem Fall die Eltern – überaus passend – zähneknirschend den Empfehlungen des Arztes Folge leisten, man will ja nichts falsch machen und für die eigenen Kinder nur das Beste. Dass das funktioniert, zeigen auch die nackten zahlen:

»Insgesamt rund 80 Prozent aller Eltern leisten private Zuzahlungen, das zeigt ein Gutachten im Auftrag des Gesundheitsministeriums.«

Und auch das wird von einigen kritisiert, die sich im System befinden:

»… der Kieferorthopäde Alexander Spassov aus Greifswald kritisiert bereits lange eine Profitgier seiner Kollegen. Die meisten Kinder und Jugendlichen bekommen bei ihm eine Zahnspange auf Kassenkosten. „Man verdient auch so gut“, sagt Spassov und verweist auf eine Publikation des Instituts der Deutschen Zahnärzte. Dort ist nachzulesen, dass ein Kieferorthopäde über die Jahre hinweg eine Arbeitszeit von fünf Stunden und 23 Minuten pro Zahnspangen-Behandlung aufwendet. „Ich schaffe das sogar schneller“, sagt Spassov, nämlich in etwa drei Stunden. Selbst mit der zwischen Krankenkassen und Zahnärzten verhandelten Vergütung kommt man schnell auf einen Stundenlohn von 1.000 Euro brutto.“«

Es gibt immer zwei Seiten bei jedem Markt. Auch die Anbieter bestimmter teurer Leistungen bzw. Produkte haben „ihre“ Zahnärzte, die sie an die Front werfen können. Dazu ein Beispiel:

»In Herrsching am Ammersee hat Kieferorthopädin Elizabeth Menzel ihre Praxis. Menzel ist eine der bekanntesten Werbeträgerinnen für Damon-Brackets, sie nennt sich selbst „Key Opinion Leaderin“. Als „Meinungsführerin“ hält sie vor anderen Zahnärzten Vorträge über Brackets. Der Damon-Hersteller wirbt mit Menzel auf seiner Internetseite. Sie wolle „aufklären“ und habe die Gesundheit ihrer Patienten im Blick, erklärt Menzel dazu. Dass es Studien gibt, die einen medizinischen Vorteil der Damon-Brackets bestreiten, ficht sie nicht an. Sie verweist stattdessen auf ihre jahrelange positive Erfahrung. Gleichwohl räumt sie im Gespräch mit NDR, WDR und SZ ein, dass sie jeden Monat „so zwischen 5.000 und 7.000 Euro“ für ihre Vorträge bekommt, unter anderem vom Damon-Hersteller. „Aber ich werde nicht bezahlt, um das Produkt zu vermarkten, sondern ich halte Kurse.“«

➞ Das kann man anders einordnen: »Klaus Lieb kann darüber nur den Kopf schütteln. Der Psychiatrie-Professor an der Uniklinik Mainz beschäftigt sich seit Jahren mit Interessenkonflikten in der Medizin. 5.000 bis 7.000 Euro im Monat „würde ich als hohes Honorar bezeichnen, aus dem ein Interessenkonflikt entsteht“, sagt Lieb. Zumal die Patienten auf der Website von Menzels Praxis nicht über ihre Interessenkonflikte informiert werden. „Die Gefahr, dass angesichts solcher Honorare eine Verzerrung drin ist, ist groß und zwar ganz unabhängig davon, welche Brackets tatsächlich die besten sind“, sagt Lieb.«

Wie erkannte schon vor sehr langer Zeit Johann Wolfgang von Goethe (also der echte, nicht der aus dem Fernsehen) im Faust I:

Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles.