Von der Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer zur Rückverlagerung in die Nähe der Absatzmärkte. Und China? Die haben ihre Arbeiter einfach nach Europa geschickt

Sie haben in der Vorlesung schon einiges gelernt über die Globalisierung, die seit Jahren in aller Munde ist. Nach den Ihnen vorliegenden Materialien wissen Sie, dass es auch schon früher, viel früher eine große Globalisierungswelle gegeben hat, in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg.

Aber die Hyperglobalisierung der letzten Jahre (die für uns heute vor allem mit China verbunden wird) ist auch nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern hat eine längere Entwicklungsgeschichte. Und am Anfang stand die Textilindustrie. Die steht zum einen paradigmatisch für die Verlagerung eines ganzen Wirtschaftszweigs in Billiglohnländer und für zahlreiche negative Folgen der Globalisierung, auf der anderen Seite erkennt man seit einigen Jahren eine gewisse Rückverlagerung der Produktion aus den asiatischen Ländern wieder in die Nähe der europäischen Absatzmärkte.

Dazu als ein Beispiel dieser Artikel lesen: Kleider machen Leute arm, so ist der Beitrag von Mathias Fiedler überschrieben, der am 30. Mai 2019 veröffentlicht wurde: »Egal ob Adidas, H&M oder Hugo Boss: Viele Textilkonzerne lassen in Bulgarien produzieren. Die Löhne sind dort so niedrig, dass sie kaum zum Überleben reichen.«

Das Beispiel Bulgarien steht stellvertretend für einen Trend, der seit einigen Jahren (bereits vor der Corona-Pandemie) diskutiert wird und den wir in der Vorlesung angesprochen haben: die Rückverlagerung der vor allem nach Asien ausgelagerten Produktion. Zwar weniger nach Deutschland, aber in die räumliche Nähe der Absatzmärkte hier und in anderen europäischen Ländern – auch und gerade, weil die Zyklen der Modeindustrie immer kürzer werden und man zunehmend entsprechend kurze Transportwege benötigt, um die Textilien an die Frau oder den Mann bringen zu können. Gleichzeitig möchte man natürlich nicht auf die Kostenvorteile einer Produktion in Billiglohnländern verzichten, denn immer noch ist die Bekleidungsindustrie sehr personalintensiv.

Und es gibt ja nicht nur Bulgarien, sondern beispielsweise auch Rumänien. Dazu vom 20. Mai 2019 dieser Artikel: Bekleidung “Made in Romania” zu Armutslöhnen: Fast eine halbe
Million Menschen arbeiten in der Modeindustrie Rumäniens. Damit ist das Land der größte Bekleidungsproduzent Europas, Deutschland eines der wichtigsten Exportdestinationen. In Rumänien sind Armutslöhne die Realität. »Die wichtigsten Strategien für Näherinnen, mit bitterer Armut umzugehen, sind neben Schulden die Subsistenzlandwirtschaft und die Arbeitsmigration. Familienangehörige fast jeder zweiten befragten Beschäftigten arbeiten als Bau- oder Schlachthofarbeiter, als Erntehelfer oder Pflegekräfte in Deutschland und Westeuropa. Zwischen den Armutslöhnen in der Modeproduktion und der Arbeitsmigration vieler Rumänen in den Westen besteht ein direkter Zusammenhang.«

Exkurs: Die Anfänge liegen schon Jahrzehnte zurück

Die Textilindustrie ist aufgrund des Strukturwandels in der Vergangenheit wie auch das, was wir derzeit beobachten können, ein lehrreiches Beispiel.In den 1970er Jahren war die Textilindustrie eine, wenn nicht die Vorreiterbranche für die Verlagerung der bis dahin gerade in Deutschland starken Textilindustrie in Billiglohnländer, vor allem nach Asien. Damals wurde das diskutiert unter dem begrifflichen Etikett „Neue internationale Arbeitsteilung“. Die Verlagerungsprozesse ins Ausland hatten bereits in den 1960er Jahren begonnen. Nur eine Zahl: 1960 betrug der der Umsatz des bundesdeutschen Bekleidungsgewerbes aus Inlandsproduktion noch 99,3 Prozent des Inlandsverbrauchs. Bereits im Jahr 1975 waren es nur noch 82,6 Prozent. Das hatte damals schon Folgen:

»Diesen massiven Verlagerungen von Bekleidungsproduktion aus der Bundesrepublik heraus korrespondiert ein Beschäftigungsrückgang des bundesdeutschen Bekleidungsgewerbes von 536.000 im Jahr 1960 auf 351.000 im Jahr 1975, der ungefähr zur Hälfte auf die erhöhten Einfuhrüberschüsse von Bekleidung zurückzuführen ist.« (Fröbel/Heinrichs/Kreye 1978: 49 f.).

Anmerkung für wirtschaftshistorisch Interessierte: Die damalige Diskussion über das, was wir heute als Globalisierung bezeichnen, kann man in diesem Werk nachlesen:

➞ Folker Fröbel, Jürgen Heinrichs, Otto Kreye (1977): Die neue internationale Arbeitsteilung. Strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Industrialisierung der Entwicklungsländer, Reinbek bei Hamburg 1977

Die drei Teile des Buches verdeutlichen, wie dort damals schon zentrale Entwicklungsprozesse beschrieben wurden, die heute im Diskurs über die Globalisierung eine bedeutsame Rolle spielen: Teil I: Die neue internationale Arbeitsteilung am Beispiel der Entwicklung des Textil- und Bekleidungsgewerbes der Bundesrepublik Deutschland; Teil II: Die Durchsetzung der neuen internationalen Arbeitsteilung: Auslandsbeschäftigung durch Industrieunternehmen der Bundesrepublik Deutschland; Teil III: Weltmarktorientierte Industrialisierung unterentwickelter Länder: Freie Produktionszonen und Weltmarktfabriken.

Im Jahr 1978 ist diese Kurzfassung erschienen, die man als PDF-Datei abrufen kann. Damit können Sie sich einen guten Eindruck von der damaligen Diskussion verschaffen:

➔ Folker Fröbel, Jürgen Heinrichs und Otto Kreye (1978): Die neue internationale Arbeitsteilung: Ursachen, Erscheinungsformen, Auswirkungen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 1/1978, S. 41-54

Vieles kann man besser verstehen und einordnen, wenn man die Wirtschaftsgeschichte kennt.

Aber die Zeit bleibt nichts stehen. Sie wissen mittlerweile, welchen rasanten Wachstumsprozess die chinesische Volkswirtschaft absolviert hat – und nunmehr streben die Chinesen eine Transformation ihrer Wirtschaft an, die wegführen soll von dem Modell einer verlängerten Werkbank der Weltwirtschaft aufgrund niedriger Arbeits- und Produktionskosten hin zu einem hochtechnologiegetriebenen Wirtschaftswachstum. Gleichzeitig sind die Löhne der chinesischen Arbeitnehmer von einem niedrigen Niveau deutlich gestiegen, was in den vergangenen Jahren dazu geführt hat, dass auf Billiglöhne setzende Unternehmen ihre Produktion in andere Länder aus China verlagert haben, beispielsweise nach Vietnam. Das gilt auch und gerade für die Unternehmen der Textilindustrie, die auf Billigklamotten (für die reichen westlichen Länder) setzen. Aber die Verlagerung der Textilindustrie weg aus China und anderen asiatischen Ländern an die zwar vergleichsweise teureren neuen Standorte in den nordafrikanischen Staaten, der Türkei oder den Balkan-Staaten, die (noch) nicht Mitglied der EU sind bzw. in die Armenhäuser der EU wie Bulgarien ist eine eingeschränkte „Rückverlagerung“ (eingeschränkt deshalb, weil die Produktion nicht einfach wieder in die Hochlohnländer wie Deutschland zurückverlagert werden, wo sie vor allem in den 1970er Jahren verschwunden sind), die aber nur dann vollständig zu verstehen ist, wenn man berücksichtigt, dass eines der treibenden Motive dabei die Nähe zu den Absatzmärkten in den reichen europäischen Ländern ist, denn angesichts der immer kürzeren Modezyklen kann man sich schlichtweg Monate von der Produktion in China bis zur Auslieferung in Europa zunehmend weniger erlauben, das muss beschleunigt werden. Dennoch bleibt die Orientierung an möglichst kostengünstigen Standorten in den Randzonen der EU.

Ein Teil der Billigproduzenten verlässt China – und China kommt dann direkt nach Europa und bringt auch noch seine Arbeiter mit

Über eine ganz eigene Form der „Rückverlagerung“ wird seit Jahren immer wieder in der Wirtschaftspresse berichtet. Ich habe Ihnen hier zwei Beispiele herausgesucht, die alle nachdenklich stimmen sollten:

Beispiel 1: Wenn chinesische Bauarbeiter eine Autobahn im EU-Mitgliedstaat Polen bauen

»In Polen ist eine Staatsfirma aus China beauftragt worden, ein Stück Autobahn zu bauen. Es ist das erste öffentliche Bauprojekt für die Chinesen in der Europäischen Union«, kann man diesem Bericht der Deutschen Welle aus dem Jahr 2010 entnehmen: Chinesen bauen polnische Autobahn: »Auf halber Strecke zwischen Warschau und Lodz sind bereits die Bagger im Einsatz. Hier wird das letzte Stück einer Autobahn gebaut. Schon 2012 soll sie fertig sein, verspricht Gou Ling, stellvertretender Leiter des staatlichen chinesischen Baukonzerns Covec … Die Auftragsvergabe an Covec hat für einige Unruhe in der polnischen Bauwirtschaft gesorgt, weil der Preis so niedrig ist … Es geht um ein Teilstück der Autobahn von rund 50 Kilometern. Die Chinesen haben dafür 340 Millionen Euro verlangt, ein sensationell niedriger Preis. Mit dem Angebot lagen sie glatt um die Hälfte unter den Kosten, die das polnische Generaldirektorat für Straßenbau errechnet hatte … Rund zwei Dutzend Ingenieure hat die Pekinger Konzernzentrale zur Arbeit nach Warschau geschickt.« Und ein Jahr später, 2011, konnte man dem Artikel Polen: Chinesen bauen Autobahn zum Dumpingpreis entnehmen: »Die Arbeiter schuften sieben Tage die Woche – auch bei Minusgraden. Erstmals erhielt eine Baufirma aus China einen öffentlichen Auftrag in der EU.« Und weiter: »Noch vor wenigen Jahren waren polnische Arbeiter in Österreich das, was chinesische Arbeiter heute in Polen sind: konkurrenzlos billig. 500 Arbeiter aus China bauen derzeit in Polen an der Autobahn A2, die einmal Berlin mit Warschau verbinden wird … Neben den 500 Arbeitern, die seit Jänner (=Januar) hier sind, kommen bald 300 weitere als Verstärkung aus China. Als Erklärung für die niedrigen Preise teilt die Unternehmensführung lediglich mit, die Firma habe „ihren eigenen Management-Stil“. So sind die Arbeiter in einer ehemaligen Schule untergebracht, in Gemeinschaftsschlafräumen mit Etagenbetten. Zur Mittagszeit werden die Mahlzeiten direkt auf die Baustelle gebracht. „Die Chinesen arbeiten Tag und Nacht, zwölf Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche, sogar an Feiertagen“, erzählt Krzysztof Lenarczyk, Infrastruktur-Beauftragter im Rathaus von Wiskitki. Sie haben im Jänner begonnen, wenn das polnische Baugewerbe Winterpause macht – „und sogar in der größten Kälte gearbeitet.“ Einer der Arbeiter ist der 38-jährige Xu Chengbing aus der Provinz Anhui. Nach zwölf Stunden Nachtschicht kommt er in der Früh von der Baustelle. Wieviel er verdienen wird, weiß er noch nicht. Sein Lohn wird direkt nach China überwiesen. „In Polen erhalten wir kein Geld. Wir brauchen es nicht, hier haben wir Kost und Logis“, sagt er. Chinesische Köche bereiten die Mahlzeiten für die Arbeiter in einer umgebauten Garage zu.«

Beispiel 2: Erst wird die einst blühende Textilindustrie zerstört, dann kommen die Chinesen zurück und produzieren Klamotten „Made in Italy“

Prato, 180.000 Einwohner, ist eine Stadt mit­ten in der Tos­kana mit ei­nem gut er­hal­te­nen, na­he­zu intakten his­to­ri­schen Zen­trum, das von mit­tel­al­ter­li­chen Mau­ern um­geben ist. Seit der Mitte des 19. Jahr­hun­derts steht die Stadt für Textil­produktion. Prato war das Textilzentrum Europas, Weltmonopolist gar bei einigen Stoffen. Bis die Krise kam. Prato hat in den vergangenen 20 Jahren den Export halbiert; gut die Hälfte der einst 8.100 Firmen existiert nicht mehr; verloren gegangen ist innerhalb von zehn Jahren mehr als ein Drittel der Arbeitsplätze, 10.000 in der Stadt selbst, 20.000 in der Region.

Aber der Niedergang der italienischen Textilindustrie ist nur die eine Seite der Medaille: »Im selben Zeitraum sind etwa 4500 chinesische Firmen entstanden, bevorzugt in der Bekleidungsindustrie, genauer gesagt in dem, was man in Italien „pronto moda“ nennt: schnell gefertigte, schnell wechselnde Artikel, verkauft an Händler aus ganz Europa, Hauptsache billig. Mit geschätzten zwei Milliarden Euro erzielen Pratos Chinesen heute fast genau den Jahresumsatz, den die Pratesi selbst verloren haben. Und eine Krise kennen die Zuwanderer nicht, im Gegenteil. 20 000 von ihnen leben legal in der Stadt, weitere 25 000 oder gar 30 000 sind illegal da, Schwarzarbeiter, die ausgebeutet werden. Das Prato ist damit zu einem Viertel chinesisch.« Das berichtete Paul Kreiner Ende 2010 in diesem Artikel: „Made in Italy“ – Der Etikettenschwindel: »In den Kleidern, Jacken, Mänteln steht „Made in Italy“. Und das stimmt sogar. Sonst aber nichts: In der Textilstadt Prato hat sich eine chinesische Parallelwelt gebildet. Sie beschäftigt illegale Arbeiter und macht ihre eigenen Gesetze.«

„Die Chinesen sind so nette Leute“, sagt eine Frau auf dem Domplatz der Stadt. Fleißig seien sie und fröhlich. „Sie stehlen nicht, verkaufen unseren Kindern keine Drogen, überfallen sich höchstens gegenseitig.“

Tauchen wir einen Moment lang ein in diese ganz eigene chinesische Welt im Herzen Italiens – die zugleich ein ganz eigenes Wirtschaftssystem im Schatten in Umrissen erkennbar macht, das Sie in keinem der trockenen VWL-Lehrbücher finden werden: 

»Die Journalistin Silvia Pieraccini hat sich in diese Welt weiter vorgewühlt als jeder andere – und ein Buch geschrieben über die Mechanismen, mit denen die Chinesen zu Reichtum kommen. Mindestens die Hälfte der zwei Milliarden Jahresumsatz, dessen sind sich Pieraccini und die Polizei gewiss, kommt illegal zustande. Stoffe werden am Zoll vorbei ins Land geschmuggelt, ganze Schiffsladungen innerhalb eines Wochenendes verarbeitet und verkauft, ohne Rechnung, ohne Beleg. Steuerforderungen durchzusetzen ist den Behörden praktisch unmöglich: Ein chinesischer Betrieb, der sich im Visier der Fahnder weiß, schließt sofort – und der Bruder, der Schwager, der Onkel, der am Tag darauf eine neue Firma ins Handelsregister einschreibt, ist für die Versäumnisse eines früheren Unternehmers nicht zu belangen. Auf den Firmenschildern im Industriegebiet stehen nur Handynummern, genauso wie auf den Stellenanzeigen, die in Chinatowns Supermärkten hängen, vor denen sich abends nervös rauchende Chinesen drängen.

Laut der Italienischen Nationalbank werden aus Prato jeden Tag 1,2 Millionen Euro nach China überwiesen. Dabei erfasst die Nationalbank nur jene Geldtransfer-Büros, die amtlich registriert sind, nicht etwa jene verschwiegene Buchhaltung, über die laut Polizei in einem einzigen Monat 2009 mehr als sieben Millionen Euro geflossen sind. Dass Geldwäsche im Spiel ist, erscheint den Ermittlern offenkundig; mancher vermutet, Prato sei ein chinesisches Finanzzentrum in Italien …
Regelmäßig hebt die Polizei versteckte Nähereien aus, in denen junge Chinesen und Chinesinnen auf engstem Raum zusammengepfercht leben, essen, schlafen und arbeiten: unter prekären hygienischen Bedingungen, mit improvisierten Gasheizungen, bis zu 18 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, zwei, drei Jahre lang – bis eben die zehntausend Euro oder mehr abbezahlt sind, die der illegale Einwanderer seinen Schleusern schuldet.
Das unsichtbare Heer der Schwarzarbeiter sei so groß, sagt Silvia Pieraccini, „dass die Chinesen in Prato jeden Tag eine Million Kleidungsstücke nähen können, also mehr als 360 Millionen pro Jahr“. Das „Made in Italy“ hat in diesen Fällen formal seine Berechtigung, „aber bei den Regeln, unter denen da produziert wird – mitten in Europa und in einer Zone mit den am härtesten erkämpften, stärksten Arbeiterrechten –, da stellen sich mir die Haare zu Berge.“

„Die Chinesen arbeiten viel, damit sie ihre Reisekosten zahlen und ihren Familien zu Hause umso mehr Geld überweisen können“, sagt dagegen ein chinesischer Arzt, der beim Ausländeramt der Stadt Prato als Behördenhelfer für seine Landsleute arbeitet. Die Leute seien jung, und sie seien nicht gezwungen worden, nach Italien zu gehen. Auch bei der chinesisch-italienischen Organisation Associna wehrt man sich gegen den Vorwurf einer verdeckten Sklaverei. Ausbeutung ja, aber Selbstausbeutung. Schließlich seien die Chinesen nicht an die Nähmaschinen gekettet. Und sie hätten ein Ziel: Sie wollen selber Unternehmer werden und ihrerseits andere Chinesen beschäftigen. Das erzeugt unter den Arbeitern ein Klima ohne Solidarität. Wer krank wird, fliegt raus. Faktisch ist die Belegschaft ihrem Arbeitsvermittler ausgeliefert. Er stellt den Nähern Wohnraum, Arbeit, Essen. „Bricht ein Element raus, bricht alles auseinander“, sagt Idalia Venco, die Caritas-Direktorin in Prato, und hofft darauf, „an die zweite Generation heranzukommen, an die Chinesen, die auf italienische Schulen gegangen sind“. Dann sagt sie den Satz, den in Prato viele sagen: „Wenn die Chinesen nicht nach Prato gekommen wären, hätte uns die Krise viel härter erwischt.“

Denn auch wenn viele Pratesi wegen der Krise ihre Firmen schließen mussten, gelang es ihnen doch zur selben Zeit, ihre Fabrikgebäude, ganze Industriegebiete und Wohnhäuser an die aufstrebenden Prato-Chinesen zu vermieten. Die zahlen jede Summe, und sie zahlen in bar. Umgekehrt haben einige Pratesi den Weltmarkt genutzt, um Bekleidung in China herstellen zu lassen.«

Nun wird der eine oder andere von Ihnen möglicherweise anfragen, ob das heute auch noch ist, denn der zitierte Artikel stammt ja aus dem Dezember 2010. Dann werfen wir einen Blick auf diesen Beitrag vom 27. Februar 2020, als das Corona-Virus in Europa in unser Leben getreten ist: Corona und die italienische Modeindustrie. Wie die Ausbeutung chinesischer Arbeiter zur Ausbreitung des Virus beiträgt, so ist der überschrieben: »Dass Italien hunderte Corona-Fälle hat, ist kein Zufall. Zehntausende Chinesen arbeiten illegal in Sweatshops – ohne Papiere, ohne Versicherung, ohne Gesundheitsversorgung. Die Profitgier der Modeindustrie ist an der Ausbreitung des Virus in Europa mit schuld«, wurde dort behauptet.

»„Pronto Moda“, so nennen die Italiener die chinesische Nähindustrie. Viele verbinden mit dem Begriff Armut, Ausbeutung, aber auch eine Billigkonkurrenz, die autochtone Arbeiter vom Markt verdrängt. Die Branche floriert: Italienische Modefirmen erwarten im Jahr 2020 einen Gesamtumsatz von 42 Milliarden Dollar. Die meisten italienischen Bekleidungsunternehmen sind Nähereien, viele davon Sweatshops, die keinen Vorschriften entsprechen. Arbeitsplatzsicherheit, Hygiene, Brandschutz, geregelte Arbeitszeiten? Fehlanzeige. Die meisten italienischen Bekleidungsunternehmen sind Nähereien, viele davon Sweatshops, die keinen Vorschriften entsprechen. Arbeitsplatzsicherheit, Hygiene, Brandschutz, geregelte Arbeitszeiten? Fehlanzeige.

Viele der chinesischen Arbeiter sind „U-Boote“, haben also keine Papiere und sind nirgends offiziell gemeldet. Die rund 1000 Euro, die sie im Monat verdienen können – für bis zu 16, manchmal auch 18 Stunden harter Akkordarbeit täglich – müssen sie sparen. Denn um eine offizielle Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, müssen die Zuwanderer Sozialversicherungsabgaben in der Höhe von etwa 25.000 Euro bezahlen. Dazu kommen die Schulden, die sie gemacht haben, um die Schlangenköpfe – so heißen die Schlepper, die sie nach Italien gebracht haben – bezahlen zu können. Mehr als 10.000 Euro kostet die gefährliche Reise üblicherweise.

Jahrelang haben die Arbeiter von ihrem hart verdienten Einkommen nichts. Deshalb schlafen sie in der Fabrik. Ärztliche Versorgung haben die zehntausenden Näherinnen und Näher nicht. Hustet in den engen Workshops und Matratzenlager einer, sind schnell alle krank …

Genau diese Arbeitsbedingungen bringen die chinesischen Arbeiter in Konflikt mit den italienischen. Weil die chinesischen Ausbeuterbetriebe so billig produzieren, drängen sie die italienischen Fabriken aus dem Geschäft. Rassismus und der Aufstieg rechter Parteien in den betroffenden Regionen sind die Folge. „Chinesen raus“, das steht an vielen Häuserwänden in Italiens Nähzentrum Prato.

Die Gewerkschaften fühlen sich für chinesische Illegale nicht zuständig. Als Reaktion gründeten chinesischstämmige Italiener 2006 eine eigene Gewerkschaft, die „Sindacato Cinese Nazionale“ (Si.Ci.Na). Sie nimmt auch Arbeiter auf, die keine Papiere haben. Die Begeisterung der italienischen Gewerkschaften hält sich in Grenzen …

Die Modeindustrie profitierte. Zu chinesischen Bedingungen und Preisen konnte sie Mode „Made in Italy“ herstellen lassen. Das individuelle Leid der Arbeiter auf der Suche nach einem besseren Leben spielte dabei keine Rolle.«

Krasse Geschichte oder?

Und geht es zur Abrundung noch aktueller? Wie sieht es derzeit aus in Prato?

»Bekleidungsindustrie in Italien: Tausende Chinesen leben und arbeiten in toskanischer Stadt. Verhältnisse verbessern sich«, so Francesco Bertolucci unter der Überschrift Chinatown in Prato. Der Beitrag ist am 30.09.2023 veröffentlicht worden.

»Prato ist eine toskanische Stadt, die seit dem 13. Jahrhundert in Italien und Europa für Stoffe und Garne bekannt ist. Heute wird mit der Herstellung von Kleidung ein Gesamtumsatz von über sieben Milliarden Euro erzielt. Fragt man jedoch einen Toskaner nach der Stadt Prato, wird er wahrscheinlich scherzhaft antworten: »Ah, Prato, die Stadt der Chinesen.« Das verweist auf die Präsenz von Menschen chinesischer Herkunft, von denen die meisten im Industriegebiet von Macrolotto und Via Pistoiese leben. Knapp 30.000 der insgesamt etwa 195.000 Einwohner Pratos gehören der chinesischen Gemeinschaft an – die ersten von ihnen kamen Mitte der 1980er Jahre. Damit hat Prato die zweitgrößte chinesische Gemeinschaft in Italien nach Mailand, wo es 30.700 von mehr als 1,3 Millionen Einwohnern sind. Die meisten der in Prato lebenden Chinesen stammen aus Zhejiang, einer Region im Süden Chinas, und insbesondere aus der Stadt Wenzhou.«

»Die chinesische Präsenz ist hauptsächlich wirtschaftlicher Natur. Bereits im Mittelalter wurde in Prato dank des reichlich vorhandenen Wassers des Flusses Bisenzio Wolle gesponnen. Mit der Industrialisierung wurde das Gebiet zu einer kleinen Wirtschaftsmacht. Nach der Krise in den 1990er Jahre kamen viele Wirtschaftsmigranten aus China. Diese wurden von den Unternehmen des Sektors oft billig ausgebeutet. Aus einfachen Arbeitskräften wurden dann viele, die zu investieren begannen. Und die Präsenz asiatischer Unternehmen hat sich explosionsartig entwickelt: Laut einem Bericht der Handelskammer von Prato machte die chinesische Produktion zum 31. Dezember 2019 allein 55,4 Prozent des gesamten Industriesektors der Provinz aus. Es gibt 3.800 chinesisch geführte Bekleidungsunternehmen, was 88,4 Prozent der Gesamtzahl entspricht, während es im Textilbereich 419 sind, was 22,1 Prozent entspricht. Der Jahresumsatz des Textil- und Bekleidungsbezirks von Prato, der mit seinen 98 Quadratkilometern die kleinste italienische Provinz ist, belief sich im selben Jahr auf 7,25 Milliarden Euro, ein guter Teil des gesamten italienischen Umsatzes in dieser Industrie – knapp 56 Milliarden Euro.«

»Die Chinesen haben uns die Arbeitsplätze weggenommen«, moniert beispielsweise Francesco Bianchi, ein Fabrikarbeiter – ein Vorwurf, mit dem man immer wieder konfrontiert wird.

Aber: »Eine Studie des regionalen Instituts für Wirtschaftsplanung der Toskana, IRPET, aus dem Jahr 2015 besagt jedoch, dass das BIP der Region um 22 Prozent niedriger wäre, wenn es keine chinesische Gemeinschaft in Prato gäbe, wobei direkte, indirekte und induzierte Effekte berücksichtigt werden. Die Wertschöpfung der nichtchinesischen Unternehmen würde um neun Prozent sinken, während die regionalen und ausländischen Importe um 36 bzw. 39 Prozent zurückgehen würden.« Die Chinesen haben hauptsächlich Textilwerkstätten in den Bekleidungsfabriken eingerichtet, im Gegensatz zu den traditionellen Unternehmen in Prato, die sich der Herstellung von Stoffen und Textilien widmeten.

Saida Petrelli, Sprecherin des Verbands Confindustria Toscana Nord, wird mit diesen Worten zitiert. »Die Behauptung, sie hätten den lokalen Unternehmen Arbeitsplätze weggenommen, ist also nicht wahr. Ganz im Gegenteil. Sie haben jedoch andere Dinge getan, die schädlich waren: in erster Linie … wie soll man sagen … illegale.«

Was meint sie damit? »Es kommt tatsächlich häufig vor, dass einige Eigentümer chinesischer Unternehmen in den lokalen Nachrichten auftauchen. Unter anderem wegen Steuerhinterziehung in Höhe von Tausenden, wenn nicht Millionen von Euro, Geldwäsche oder Umweltverschmutzung, wobei die Verarbeitungsabfälle auf illegalen Deponien oder in Flüssen abgeladen wurden. Oder wegen des Verdachts auf internationale Transportbetrügereien.« Immer wieder wird berichtet über die mutmaßliche Unterwanderung der lokalen Wirtschaft durch die chinesische Mafia.

Der Löwenanteil der lokalen Nachrichten ist jedoch der Ausbeutung der irregulären Einwanderung oder der Schwarzarbeit vorbehalten. Die ist zusammen mit den Arbeitsbedingungen ein Problem, das vor fast zehn Jahren ins internationale Rampenlicht geriet, als im Dezember 2013 beim Brand in der Firma Teresa Moda sieben Menschen starben, von denen einige illegale Einwanderer waren.

»Die Angestellten des Unternehmens, alle chinesischer Herkunft, arbeiteten, aßen und schliefen in der Fabrik, in Schlafsälen aus Gipskartonplatten. Einer der Toten wurde in einem Schlafanzug gefunden. Dieser Vorfall war der Auslöser für eine Reihe umfassender Kontrollen, die die Region Toskana für alle Unternehmen einführte. Eine Taskforce, an der die örtliche Gesundheitsbehörde, das Gewerbeaufsichtsamt, die Polizei und die Carabinieri beteiligt sind.«

Aber die Situation habe sich in den vergangenen Jahren verbessert. Viele Unternehmen würden mittlerweile korrekt agieren – in den Unternehmen. Es bleibt weiterhin ein Problem mit der Unterbringung der Arbeiter:

»Die Häuser oder Grundstücke, die die Menschen chinesischer Herkunft dann zur Miete finden, so erklären die Polizisten, gehören in der Regel Italienern, die oft zu überteuerten Preisen vermieten. Neben den schlechten hygienischen Bedingungen in den Wohnungen mit Betten, die von den Mietern selbst auf der Terrasse aufgestellt werden, fällt auch die Zahl der Energizer und Aufputschmittel auf, die den Arbeitern in jedem Unternehmen zur Verfügung stehen. Viele bleiben ein paar Jahre hier, arbeiten lange, um soviel Geld wie möglich zusammenzukratzen, und gehen dann wieder nach Hause. Sie sind meist zwischen 20 und 40 Jahre alt und sprechen im allgemeinen wenig oder gar kein Italienisch. »Das liegt daran, dass sie bei ihrer Ankunft über ein Beziehungsnetz verfügen, das ihnen sofort einen Job verschafft und es ihnen ermöglicht zu leben, ohne Italienisch zu lernen«, erklärt Marco Wong, ein Italiener chinesischer Herkunft.«

Jedes Jahr gibt es mindestens eine oder zwei Wellen von Menschen, die kommen und gehen, so dass nur wenige Wurzeln schlagen. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass es sich um eine geschlossene Gemeinschaft handelt – und es kommt oft vor, dass viele Kinder kein Italienisch sprechen, da sie den ganzen Tag in chinesischen Horten verbringen und nur Chinesisch sprechen.

Und abschließend wieder zurück zum Geschäft: »Es ist seit Jahren bekannt, dass viele Modemarken für ihr »Made in Italy« oft indirekt auf chinesische Unternehmen in Prato zurückgreifen. Indirekt deshalb, weil die fertigen Produkte über einen Ring von Subunternehmern zu ihnen gelangen und sie es vielleicht nicht einmal wissen. Daran ist nichts Illegales: Denn die Kleidung wird in Italien und von Unternehmen in diesem Gebiet hergestellt. Sie kosten weniger, und das ist für die Marken und Geschäfte praktisch, wenn auch etwas weniger für die Kunden, die dann vielleicht immer noch einen hohen Betrag zahlen.«